Erster Tag der Alpenquerung, Montag, 16.09.2024: Von Memmingen über Oy nach Füssen und weiter nach Ehrwald (40 km, 510 Hm)
Am Vortag (Sonntag, 15.09.2024) begann unsere Anreise. Warum? Weil der Langstrecken IC Hamburg-Berchtesgaden recht kurzfristig einfach abgesagt wurde, ohne Ersatzverbindung, für über eine Woche Zugausfall – und weil vier Fahrradstellplätze in den alternativen ICE-Verbindungen nach Augsburg oder München längst nicht mehr zu bekommen waren. Da half letztlich nur die Erweiterung des Suchraums für den Zielbahnhof und der Wechsel auf die wenig beliebte frühe Abfahrtzeit und die Vorverlegung auf Sonntag.
Gleichwohl: So hatten wir Gelegenheit, der eindrucksvollen alten Stadt Memmingen einen Besuch abzustatten und dann am Folgetag von Oy-Mittenberg bis Füssen auf Teilstrecken der Allgäuer Radrunde durch die stark hügelige Wiesenwirtschaft des östlichen (bayrischen) Allgäus zu radeln.
Es war kaum zu glauben, aber tatsächlich so geschehen: Uns beförderte die Bahn fast pünktlich und ohne Überfüllung mit vier Fahrradstellplätzen von Hildesheim nach Stuttgart, ließ uns auf diesem elenden Restkopbahnhof zwar rasch, aber hinreichend schnell die Bahnsteige in einem Strom von Reisenden wechseln, gleich in den nächsten ICE nach Ulm, dort allerdings mühevoll mit den Aufzügen hinauf auf die „neue“ Bahnsteigbrücke und hinunter in den wartenden RE nach Memmingen, der auch für uns mit Rädern noch genug Platz bot, aber bei Abfahrt voll besetzt war. Etwas müde trafen wir gegen 15 Uhr in der schönen Stadt Memmingen ein.
Unser Hotel war das Drexler, mitten in der Altstadt gelegen, in der an diesem Tag der Altstadtlauf stattfand. Dieses Volksfest, das mich sehr an den Wedekind-Lauf in Hildesheim erinnerte, querten wir am Marktplatz. Ute hatte herausgefunden, dass die „Lauschtour“-App eine Stadtführung bietet, und dieser folgten wir, was sehr interessant war.
So gab es also innerhalb der Stadtmauern einiges zu bestaunen, insbesondere aber den einstmaligen Wohlstand dieser Freien Reichsstadt, die das Monopol für den Salzhandel mit der Schweiz hatte und die Lieferung von der Saline in Reichenhall dorthin bewirtschaftete.
Einkehr zum Abendessen in die Blaue Traube. Erstaunlicherweise hatten in der attraktiven Touristenstadt Memmingen viele Cafés am Sonntagnachmittag geschlossen. Schließlich fanden wir einen dicht besetzten Italiener, wo wir nicht nur guten Kaffee bekamen, sondern auch uns etwas aufwärmen konnten, denn es war zwar sonnig, aber kühl.
Auf dem Abschluss unser Lauschtour schauten wir uns zwei Gaststätten an, entschieden uns für die Blaue Traube und aßen gut dort an einem Tisch, dem immer wieder neue Gäste hinzugefügt wurden.
Wir alle hatten die Wetternachrichten zur Kenntnis genommen. Am Montag sollte es viel regnen, auch in der Region um Füssen, aber wohl längst nicht so katastrophal viel wie im östlichen Österreich und in Tschechien, wo Hochwasserkatastrophen drohten, auch in Polen. Ab Dienstag dann wieder Sommerwetter auf unserer Route. Hartmut schickte ein Web-Cam-Foto herum, das die Seiser Alm mit Schneebedeckung zeigt. Dort soll unsere Alpenquerung in einer Woche endigen …
Am Montag begann unsere Alpenquerung beim Frühstück im Memminger Hotel mit einer nochmaligen Befragung der Wetter-Apps, die allesamt die gleiche Meinung vertraten: Dauerregen bei kühlen Temperaturen, bis Dienstagvormittag. So beschlossen wir, die Bahnverbindung nach Füssen zu nehmen und auf die 35 km zu verzichten, die wir von Oy nach Füssen auf dem schönen Rundkurs Allgäu radeln wollten.
Diese Planänderung ermöglichte zugleich, einige Ausstattungsdefizite im Vaude-Shop Memmingens auszugleichen: Winterhandschuhe, Helmhaube und Gamaschen mussten tw. mehrfach zugekauft werden, um den Anforderung der og. Witterung standhalten zu können.
Beim Umsteigen in Buchloe machten wir die Bekanntschaft mit einem Gravelbike-Radler aus Künzelsau, der uns ausführlich sein 13 kg leichtes E-Bike (!) vorstellte und seine extrem reduzierte Packmenge. Ja, wenn wir vierzig Jahre jünger wären, dann …
In Füssen fanden wir ein schönes Café und bereiteten uns auf das vor, was draußen noch immer stattfand. Also: alles, was Regen abhält, wurde angezogen und dann ging’s hinaus aus der eindrucksvollen Altstadt, vorbei an den Lechfällen, die den Durchbruch des Flusses durch den Alpenkamm markieren, und hinein in die Talauen des oberen Lechtals.
Die Wegführung ist hier angenehm, meist abseits der vielbefahrenen Bundesstraße, oft durch die grünen Mähwiesen geführt.
Alpenpanorama: Östlich erheben sich die Geierköpfe der Ammergauer Alpen, die die Route bis hinter Reutte begleiten. Westlich blickt man auf die Gipfel der sog. Tannheimer Gruppe, die zu den Allgäuer Alpen zählen und die Route bis Ehrwald begleiten. Leider war der Blick auf die Gipfel kaum möglich, denn die Regenwolken legten ihren Schleier darüber.
Durch Oberpinswang führt die Route in Richtung Reutte und zuvor durch eine Kette von Dörfern: Unterletzen, Pflach (Blick auf die denkmalgeschützte Bahnbrücke über den Lech) und Huttenbichl.
Reutte (853 m ü. A. (über Adria)) ist eine Marktgemeinde mit ca. 7000 Einwohnern und hat eine Bahnanbindung nach Kempten bzw. in der Gegenrichtung über Ehrwald nach Garmisch-Partenkirchen und weiter nach München. Fassadenmalereien zieren etliche Häuser der Altstadt, die eine sehr schön gestaltete Fußgängerzone hat, welche wir ohne Publikum an diesem Regentag konfliktlos durchradeln konnten. – Einstmals gab es in diesem Ort einen bedeutenden Salzhandel statt (Salzstraße von Hall in Tirol nach Bayern); heute erinnern daran der Salzstadel sowie das Grüne Haus (Museum). Zudem ist hier der Via Claudia Augusta Brunnen zu bestaunen.
Hinter Reutte verlässt die Route das Lechtal und steigt hinauf zu einem Bergsattel und folgt damit dem Katzenbichlbach.
Oberhalb (nördlich) von Heiterwang trifft die Route auf den Grundbach, der als Zufluss den Heitersee und jener den Plansee speist, der nach Reutte abfließt und von einem Speicherkraftwerk genutzt wird. Der Moosbach kommt abwärts aus dem Tal von Nordosten, entspringt in den Ammergauer Alpen und mündet bei Bichlbach in den Grundbach. Erst in Lähn wird die Wasserscheide überquert; hier wird der Scheitelpunkt dieses kleinen Passes erreicht und hier beginnt die Abfahrt hinunter nach Leermoos und weiter nach Ehrwald. Der Lussbach kommt von der anderen, der südlichen Talseite und damit von den Lechtaler Alpen herunter nach Lähn und mündet bei Ehrwald in die Loisach.
Alpenpanorama: Im Osten erheben sich die Ammergauer Alpen. Im Westen begleiten weiterhin die Lechtaler Alpen die Route.
Von Reutte aufwärts radelnd wird in diesem recht schmalen Tal die Burgenwelt Ehrenberg erreicht, ein touristisches Highligt, an diesem Tag aber fast ohne Besucher. Die Ruine Ehrenberg ist wohl deren bekanntestes Bauwerk, eine gotische Festungsburg, datiert auf 1296. Weiter oberhalb ist Ende des 18. Jhs eine „moderne“ Festungsanlage errichtet worden, die aber bald schon verfiel und heute als „Schlosskopf“ bezeichnet wird. Auf dem gegenüberliegenden Bergrücken ist im 17. Jh. eine ergänzende Festungsanlage gebaut worden, deren Reste „Fort Claudia“ genannt werden. Den Taldurchgang versperrte die Festung Klause, die auch als Zollstation diente. Heute ist hier ein Besucherzentrum eingerichtet.
Das Tal wird auf Höhe der Burg Ehrenberg von der Highline 179 überspannt, einer Fußgängerhängebrücke von ca. 400 m Länge, die ca. 110 m über dem Talgrund und damit dem Grundbach verläuft, einen 1,2 m breiten Gehweg hat und in beiden Richtungen begehbar ist. Ein Schrägaufzug bringt die Touristen zum Eingangsbereich auf der Westseite des Tales; ein anschließender Schrägaufzug führt dann hinauf zum Schlosskopf. Diese Hängebrücke fände durchaus Interesse bei Ute & Hartmut und wohl auch bei Gotthard, die bereits deren Schwesterstück an der Rapp-Bode-Talsperre ausprobiert haben, Ute sogar im Gleitschlitten!
Beim weiteren Routenanstieg wird zunächst Heiterwang erreicht, das eine spätmittelalterliche Ortsdurchfahrt besitzt. Weiter geht es durch Bichlbach und Wengle. Die Wegstrecke ist mal asphaltiert, aber auch mal feinschottrig. Es gibt sogar zwei Passage von Bächen, die ihr Geröll auf dem Radweg ablagern und die mit seichten Furten überquert werden müssen.
Die Wegstrecke von Reutte nach Ehrwald führt also über mehrere kleine Pässe und hat deshalb einige Steigungen zu bieten und einen kuriosen Gewässerverlauf: Weder fließen die Bäche im mittleren Streckenabschnitt zurück nach Reutte noch voraus nach Lermoos, sondern bei Heiterwang treffen sich die Bäche und münden in den nordwestlich, also in einem Nebental gelegenen Heiterwanger See, der dann in den Plansee abfließt und dieser entwässert nach Reutte in das tief unten liegende Turbinenkraftwerk.
Das Wetter blieb, wie es am Morgen begann: Es regnete unaufhörlich. Allerdings hatten wir auf der Höhe von 1000 m nur noch 6 Grad und konnten ca. 200 m höher auf die Schneegrenzen schauen.
Bei Lermoos wird das Loisachtal erreicht, auf dessen gegenüberliegender Seite sich Ehrwald befindet. In Ehrwald geht die Kabinenbahn hinauf auf die Zugspitze, der österreichische Gipfelzugang ist dies. Von Garmisch-Partenkirchen aus fährt die deutsche Zugspitzbahn hinauf auf den höchsten Gipfel der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen Lermoos und Ehrwald erstreckt sich ein weitläufiges Moorgebiet, das jedoch trockengelegt worden ist. Der Radweg durchquert über eine asphaltierte Trasse die Wiesenlandschaft, die tw. renaturiert wird.
In Ehrwald fanden wir bei der älteren und mit ihrem Tiroler Dialekt nur schwer verstehbaren Frau Tschafeller (Pension Adlerhorst) eine nette und praktische Unterkunft, insbesondere mit Trockungsraum für unsere regennasse Bekleidung. Und beim Italiener Al Castagno wurden wir mit guter Küche versorgt.
Zweiter Tag der Alpenquerung, Dienstag, 17.09.2024: Von Ehrwald über den Fernpass nach Landeck am Inn (60 km, 650 Hm)
Vom Frühstücksraum schauten wir auf ein regen- und nebelverhanges Tal: wo bleibt die Sonne? Also starteten wir nochmals mit Regenbekleidung – in Richtung Fernpass, also von Ehrwald das hier weite Tal der Loisach hinauf. Die Wiesenwirtschaft hat die Moorflächen abgelöst und das trocken gelegte Tal zu einer lieblichen Landschaft umgestaltet, wenn man von der kanalisierten Führung des Flüsschens absieht und hofft, dass die CO2-Emmissionen der Torfreste gering bleiben, weil diese wenig Luftzugang bekommen.
Unsere Zimmerwirtin freute sich, dass der viele Regen hier zum guten Teil als Schnee an den Hängen liegt, denn andernfalls hätte die Loisach zuviel Wasser aufnehmen müssen und es hätte Überschwemmungen gegeben – die Mähwiesen stünden dann unter Flusswasser.
Also radelten wir in das nebelverhangene und leicht verregnete Tal der Loisach hinein und hatten den Eindruck, dass die günstige Wettervorhersage ihr Versprechen bald schon einlösen könnte.
Und so verlief auch die nachfolgende Stunde mit dem Anstieg hinter Biberwier hinauf auf den Fernpass. Das Loisachtal muss dort verlassen werden, um die Passhöhe zu erreichen. Und das bedeutet für die Radler, dass sie eine schottrige Piste hinauffahren müssen, mit Steigungen zwischen 6 und 12 %.
Etwas unterhalb der Passhöhe war es dann soweit: Die Sonne brach durch die Wolken, der Regen hatte schon aufgehört und nach diesem kalten und nassen Wetter setzte ganz übergangslos der Spätsommer ein. Wir begrüßten ihn mit Blick auf die schneebedeckten Berge jenseits des Tals, d. h. mit Blick auf die Lechtaler Alpen.
Am meistfotografierten Aussichtspunkt kurz vor der Passhöhe legten wir natürlich auch eine kleine Pause ein. Der Blick hinunter ist schon beeindruckend; dort windet sich die vielbefahrene Bundesstraße zur Passhöhe hinauf.
Auf der Passhöhe liegt die Burg Fernstein, deren Bauteile aus mehreren Jahrhunderten stammen. Die Burg diente nach Verlegung der Handelsstraße aus dem Tal auf eine Trasse unterhalb der Burg, an der eine Zollstelle errichtet wurde (Klausenhaus), als Zollstation, welche später aber auf die Höhe des Fernpasses verlegt wurde. Seit mehreren Jhn wechselten die Besitzer der Burg; letzter ist seit 1960 der Inhaber des Schlosshotels Fernsteinsee, der Bauteile des Schlosses als Teil seines Hotels herrichten ließ. Auf der Insel im Fernsteinsee finden sich die Reste der im 15. Jh. erbauten Sigmundsburg. Der See ist ein beliebtes Ziel von Sporttauchern.
Nach Querung der Bundesstraße führt die Radroute zur Kapelle der 14 Nothelfer, deren Anrufung vor recht partikularen, keineswegs die Gesamtheit der menschlichen Elendsverhältnisse abdeckenden Nöten schützen soll.
Wir radelten noch hinab zum Fernsteinsee, der unterhalb der Autobrücke sehr idyllisch gelegen ist und sich in Privatbesitz befindet. Radler sind hier unerwünscht; zahlungskräftige Taucher hingegen sehr.
Dann folgte die vielleicht spektakulärste Abfahrt der Alpenquerung: den Fernpass hinunter. Zunächst muss eine Holzplankengalerie genutzt werden. Schon zuvor ermahnen Warnschilder zum Schieben des Rades, denn der Weg ist sehr schmal und hinter der Galerie auch sehr steil.
Zum Glück ist die Via Claudia Augusta – jedenfalls zwischen Ehrwald und Imst – eher eine Einbahnstraße. Es kamen uns nur wenige Radler entgegen, und die haben eine deutlich schwierigere Route zu bewältigen mit starken Steigungen und gerölligem Untergrund. Diese Passagen konnten wir bergab rollen, mit Gepäck, vorsichtig bremsend.
Der nach dem Regen pastellfarbene (wegen der mitgeschwemmten Sedimente) Gurgelbach begleitet die Route durch das späterhin geradezu idyllische Gurgltal bis nach Imst. Im oberen Abschnitt ist der Bach ein recht wilder Geselle, der sich wohl auch gelegentlich mit Geröllablagerung auf den Radweg ausdehnt.
Nassereith war einstmals eine Bergbausiedlung. An den nordöstlich des Dorfes gelegenen Felswänden finden sich noch heute Mundlöcher (Stolleneingänge). Am südlichen Dorfende schließt sich die Siedlung Dormitz an, die für die Wallfahrtskirche Zum Heiligen Nikolaus bekannt ist.
Leider wird der Radweg von Nassereith bis Tarrenz am Talrand durch die Fichten- und Kiefernwälder geführt und nicht durch die weiten Wiesen des Talgrundes, auf denen kleine Heuschober stehen, was ein sehr schönes Bild gibt. Da wir dort „unten“ ab und an Fußgänger sahen, gibt es wohl auch einen Wiesenweg. Mag sein, dass die Radler mittlerweile auch auf „Umgehungswege“ geführt werden, um die Wanderer von ihnen zu verschonen.
Wir querten eine Zählstelle und konnten dort ablesen und schätzen, dass es in diesem Jahr sicherlich auch wieder 100.000 (!) Radler sein werden, die diese Route nehmen. Und wenn diese mobilen Gäste nur zwischen Mai und Oktober unterwegs wären, dann wären es ca. 12.500 Radler pro Monat im Durchschnitt, in den Sommermonaten wie diesem September aber eher 25.000, was ca. 800 Radler pro Tag ergäbe. Gesehen haben wir diese große Anzahl nicht, eher im Gegenteil: Es herrschte kein Hochbetrieb auf der Route. Ab und an überholten uns junge Männer auf sehr schnellen Gravelbikes mit wenig Gepäck und gelegentlich sahen wir unseresgleichen auf E-Bikes mit eher vier als zwei Satteltaschen.
Tarrenz war früher gleichfalls ein Bergbauort. Heute werden in dem Freilichtmuseum „Knappenwelt Gurgltal“ einige Aspekte der Arbeits- und Lebenswelt von damals gezeigt.
Hinter Tarrenz verläuft die Route durch die Wiesen, auf denen allenfalls mal ein paar Schafe als Weidetiere gehalten werden. Hier wie auch im Allgäu wird kaum Weidewirtschaft betrieben, sondern Wiesenmahd. Die Milchkühe stehen ganzjährig im oftmals kleinen Stall. Große Laufställe sind kaum zu sehen, und das Milchvieh wird im Stall mit dem Heu versorgt. Wenn das Vieh noch angebunden wird, lautet dessen Lebensmotto: Fressen, Saufen, Liegen. Auf unseren Milchpackungen nennt sich auch das „Heumilch“, sicherlich von ökologisch besser versorgten Kühen stammend, Haltungsform eher elendig.
Imst liegt auf ca. 820 m NHN und wirkt wie ein Straßendorf, das kein rechtes Zentrum hat. Wir fanden schließlich ein Café und hätten in voller Mittagssonne draußen sitzen können, aber es fehlten die schattenspendenden Schirme. Ja, wir waren wieder im Sommer unterwegs.
Im 15. u. 16. Jh. war Imst eine Bergbaustadt. Eine künstlerische Attraktion stellen die vielen Brunnen dar. Im 17. u. 18. Jh. handelten Singvögelzüchter der Stadt in ganz Europa mit ihren Sängern, wozu Carl Zeller die Operette „Der Vogelhändler“ (1875) schrieb. Schon 1933 ernannte – als erste Tiroler Stadt – Imst den Österreicher Adolf Hitler zum Ehrenbürger, was erst in den 1990er Jahren widerrufen wurde. 1949 gründete Hermann Gmeiner in Imst (Bronze-Denkmal) das erste SOS-Kinderdorf als Sorgeeinrichtung für Kriegswaisen und heimatlose Kinder.
Hinter Imst muss durch weitläufige Industrieareale geradelt werden. Dabei kann die hochtechnisierte Holzindustrie bestaunt werden. Und so gelangt man an den Inn und dessen begleitende Autobahn. Das Inntal ist in dieser Region eng und zwingt die fünf Verkehrswege in enge Nachbarschaft: den Radweg, die tw. zweigleisige Bahntrasse (Arlbergbahn von Innsbruck nach Bludenz und Lindau), die Autobahn und Landstraße sowie den Fluss, der aber „nur“ Geröll und Sediment transportiert, aber davon (derzeit) reichlich.
Der Inn zählt zu den Flüssen, die die Alpen in Kammrichtung, d. h. von West nach Ost (bzw. umgekehrt) durchziehen. Weitere Alpenlängstäler durchfließen die obere Rhone, der Oberrhein, die Etsch (im Vinschgau), die Drau, die Salzach, die obere Enns sowie die obere Mur und deren Zufluss, die Mürz.
Alpenpanorama: Imst liegt (fast) im Oberinntal, das vom Schweizer Engadin bis Innsbruck reicht. Dieses Tal trennt die Nördlichen Kalkalpen von den südlichen Zentralalpen. Nordwestlich folgt die Route – auch weiterhin – den Lechtaler Alpen, im Südwesten ragen die Ötztaler Alpen auf.
Die letzte Etappe führt auf Landeck zu, das zusammen mit Zams ein recht großes Siedlungsgebiet hat. Hier querten wir zunächst die Sanna, die als reisender Nebenfluss in den etwas mageren Inn strömt. Die Bahnstrecke führt in das Sannatal hinein in Richtung Arlbergtunnel. Das Inntal verbleibt ohne Bahntrasse und wird immer wieder sehr schmal mit wenig Raum für die Verkehrswege.
Unser Quartier in Landeck lag oberhalb der Fußgängerzone und bot eine ruhige Nacht in dieser Stadt, die vom touristischen Massendurchgangsverkehr nicht mehr behelligt wird, seitdem der Tunnel nach Fließ in Betrieb genommen wurde.
Dritter Tag der Alpenquerung, Mittwoch, 18.09.2024: Von Landeck zum Reschenpass und nach Nauders (32 km, 250 Hm)
Alpenpanorama: Von Landeck aus wird weiter dem Verlauf des Inn gefolgt, an dessen westlichem Ufer die Samnaun-Gruppe aufsteigt, am östlichen Ufer wird entlang des Glockenturmkamms geradelt, der zu den Ötztaler Alpen zählt.
Schon wieder ein sommerlicher Morgen mit Aufbruch im Inntal, also dem Fluss aufwärts folgend, der sich immer wieder durch eng stehende Talflanken winden muss, aber eben auch breitere Talflächen mit Wiesen zu bieten hat. Beeindruckend auch die Querung des Inn auf mehreren Brücken. Ein besonderes hölzernes Exemplar schon gleich hinter Landeck.
Der Inn wird auch als Energiequelle genutzt. Bei Fließ quert der Radweg den Fluss an einem großen Stauwehr. Oberhalb meint man, an einem See entlang zur radeln.
Von hier aus wird ein beträchtlicher Teil des Innwassers durch einen 12 km langen Tunnel bis kurz vor Imst geleitet und nach einem Höhenunterschied von 143 m dort in die Kraftwerksturbinen geführt.
In Prutz kehrten wir ein und saßen im schattigen Café, um das Aufladen von Karl-Heinz‘ Fotoapparat abzuwarten. Anscheinend vertrackte Probleme mit dem dunklen Display löste Gotthard durch den beiläufigen Hinweis, dass Karl-Heinz doch mal die Sonnengläser seiner Brille hochklappen solle. Dies als weiteres Beispiel einer fürsorglichen Betreuung beim Rentnerradeln in der irritierenden Fremde, wo manches einfach liegen gelassen (z.B. Helmhaube) oder am falschen Ort gesucht (z.B. in den unergründlichen Tiefen der Ortliebpacktaschen) oder vergessen (z.B. Aufladen des Bosch-Akkus) oder eben nicht ganz sachgemäß (z.B. kryptische Smartphone-Apps) gehandhabt wurde. Und hätten da nicht die Anderen kognitiv interveniert, … . Gleichwohl: Bei der morgendlichen Abfahrt saß einjede(r) tatsächlich auf seinem Fahrrad, hatte seine Packtaschen gefunden und an seinem Vehikel angebracht, war allenfalls unsicher, ob der sich Zimmerschlüssel noch in der Hosentasche verbarg oder bereits an der Rezeption abgeben war. Das sind für Ü70er geradezu ideale Startbedingungen!
Weiter ging es dann flussaufwärts durch winzige Dörfer wie Ried und Tösens. Das Inntal weitet sich hier und wirkt geradezu idyllisch.
In Pfunds erreichten wir dann einen signifikanten Entscheidungsort. Der Ortsname stammt von lat. Fundus = fruchtbarer Boden. Pfunds liegt 970 m ü NN und hat immerhin 2600 Einwohner. Als Tourismusort ist Pfunds beliebt, weil – per Skibus – von hier Zugang zu 6 Skigebieten, insbes. Samnaun und Nauders, besteht. Architektonisch interessant: eine Vielzahl gotisch geprägter Häuser mit gemauerten Außenstiegen sowie romanischen oder gotischen Torbögen.
Zufällig hatte Karl-Heinz bei irgendwelchen Surf-Aktionen herausgefunden, dass ab dem 2. September 2024 der alte Reschenpass für Radfahrer gesperrt wird. Und so hatten wir verabredet, ein Shuttle-Taxi zu bestellen, das uns und die Fahrräder von Pfunds hinauf nach Nauders befördert. Wie sich nun vor Ort herausstellte: eine weise Entscheidung.
Gotthard machte in Pfunds eine Mittagspause im sonnigen Außenbereich des Hotels Traube.
Ute & Harmut und Karl-Heinz radelten die 6 km weiter entlang des Inn zur einstmaligen Zollstation Altfinstermünz. Zunächst unterquerten wir die bekannte Kajetansbrücke, die im 19. Jh. erbaut wurde und die Trasse der Via Claudia über Altfinstermünz erübrigte.
Weiter ging es dann nach Altfinstermünz. Wir waren sehr beeindruckt sowohl von dem Innübergang an dieser engen Talstelle als auch von dem burgähnlichen Gebäudeensemble.
Versehen mit vielen Fotos radelten wir wieder nach Pfunds zurück. Dort traf pünktlich der Sprinter ein, ein SFL-Taxi, der Fahrer lud unsere Räder sorgfältig in den Heckbereich, wir stiegen ein und fuhren dann, welch eine Überraschung, nach Martina, d. h. den Inn hinauf und vorbei an Altfinstermünz bis an die Schweizer Grenze. Aber mit dem Rad waren wir zuvor schneller unterwegs, denn auf dieser Straße gab es mehrere Baustellen mit Ampelwechselschaltung, jedweder Reschenpassverkehr musste hier durch, weil, ja weil die neue Reschenpass-Bundesstraße voll gesperrt ist. Also geht der gesamten Fernverkehr über die alte Reschenpassstraße hinauf zur Norbertshöhe, also 11 Serpentinen im Kolonnenmodus. Radverkehr auf dieser ansonsten nur von Radlern genutzten Passstraße verboten. So verblieb unsere Alpenquerung zwar ohne jene Hochleistung: auf 6 km sind 400 Hm zu überwinden, aber ohne Dauerüberholungen durch genervte PKW-Touristen und die Ausdünstungen deren hochdrehender Fahrzeuge.
Das Shuttle lieferte uns gegen 15 Uhr auf 1400 m im sonnigen Nauders ab. Wir nahmen noch Kaffee und Kuchen im Café und bezogen dann unser Quartier in der Pension Tirol.
Das Schloss Naudersberg – erbaut im 14. Jh., nach Brand in den folgenden Jahren wieder auf- und umgebaut in der heutigen Form – liegt auf einem Hügel über dem Ort. Im Schloss, das sich in Privatbesitz befindet, ist ein Museum untergebracht, das über das mittelalterliche Ritterleben und dessen Grobheiten informiert.
Das Abendessen mit Spinatknödeln gab es beim Niklas, dazu trockenen Muskateller, der mich an meine Lambrusco-ergänzenden Studienerfahrungen vor über fünfzig Jahren in Freiburg erinnerte.
Vierter Tag der Alpenquerung, Donnerstag, 19.09.2024: Von Nauders nach Schlanders im Vinschgau (50 km, 660 Hm)
Am frühen Morgen verabschiedete sich der Vollmond über Nauders. Mit 6 Grad begrüßte uns ein mal sonniger, mal etwas bedeckter, aber regenfreier Tag. Nauders liegt vor dem Eingang ins Vinschgau, also just vor dem Alpenhauptkamm, hinter dem es ins meist wärmere Südtirol übergeht.
Alpenpanorama: Die Route verläuft auch weiterhin entlang der Ötztaler Alpen im Osten. Im Südwesten erheben sich die Gipfel der Sesvennagruppe. Der geologische Reschenpass liegt etwas weiter südlich und somit oberhalb von Nauders. Dieser Pass befindet sich auf dem Alpenhauptkamm, der sich nach Osten durch die Ötztaler Alpen zieht.
Außerhalb von Nauders, d. h. südlich, liegt die Talstation der Bergkastelbahn, die in ein Skigebiet auf über 2000 m Höhe hinaufführt.
Die Route verläuft nun durchweg in Italien und zwar in dessen Region Vinschgau hinein. Mit leichtem Anstieg wird über den Reschensee zum Dorf Reschen gefahren, das am gleichnamigen Stausee (der Etsch) liegt, aus dem an der Mitte des ostseitigen Ufers der Kirchturm des „versunkenen“ Dorfes Alt-Graun emporragt. Wir nahmen die westliche Route, die sehr viel angenehmer zu radeln ist als die Via Claudia Trasse, die neben der Bundesstraße am Ostufer entlang führt. Allerdings konnten wir den im See stehenden Kirchturm nur von Ferne sehen.
Der Reschensee hat eine zweifelhafte Entstehungsgeschichte. Nach der Annexion von Südtirol durch Italien im Jahr 1920 wurden ältere Planungen für einen Stausee am bereits vorhandenen, sehr viel kleineren Reschensee wieder aufgenommen und in den Jahren um 1940 von der faschistischen Mussolini-Regierung in ein Bauvorhaben überführt, das nach Kriegsende von der italienischen Regierung weiter fortgesetzt wurde. Durch den Stausee wurden große Flächen fruchtbaren Wiesenlandes vernichtet und das Dorf Graun ganz und das Dorf Reschen teilweise umgesiedelt. Die Bevölkerung war weder an den Planungen beteiligt noch über deren Umsetzung hinreichend informiert. Nicht gesprengt wurde der Kirchturm des Dorfes Graun, der noch heute aus dem See hervorragt. Gespeist wird der Reschensee vom Bach Reschen, der oberhalb des gleichnamigen Dorfes entspringt, und von einigen weiteren Bächen.
Der Radweg am Westufer führt in einem ständigen Auf und Ab durch Wiesengelände mit häufigem Ausblick auf den Reschensee.
An der Staumauer wird das Ausmaß dieses landschaftsverändernden Wasserbauprojekts deutlich. Allein die Überlaufabflusstrichter wirken riesig. Das so geschaffene Wasserreservoir wird über eine Druckleitung von 3 m Durchmesser über 12 km nach Schluderns geleitet, wo es mit einem Höhenunterschied von immerhin 586 m zwei Kraftwerksturbinen antreibt.
Hinter dem Reschensee beginnt die Abfahrt durch das Obere Vinschgau. Bis Bozen sind dann kaum mehr Steigungen zu nehmen, man radelt gut 100 km das Etschtal hinab, meist auf sehr gut asphaltierten, aber nicht sehr breiten Radwegen, die an eine Fahrradautobahn erinnern und auf der einige Packtaschenradler und viele Schnellradler unterwegs sind, wobei letztgenannte mit ihren Trikots und Rennbrillen aussehen wie Außerirdische. Mehrfach wird in Richtung Bozen den Radlern die Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h vorgeschrieben, die ohne Aufwand um 20 km/h gesteigert werden könnte.
Das Vinschgau liegt unterhalb des Alpenhauptkamms und wird von hohen Bergketten umstanden, was zu einem besonderen Klima geführt hat: wenig Niederschläge und hohe Jahresdurchschnittstemperatur. Insbesondere die früh einsetzende und lang andauernde sommerliche Wärme macht Orte wie Meran sehr attraktiv. Die Niederschlagsarmut veranlasste die Obst- und Weinbauern schon im Mittelalter, aus den höher gelegenen Nebentälern Wasserrinnen und -leitungen zu bauen (sog. Waale), mit denen vor allem die an den Hängen gelegenen Wirtschaftsflächen bewässert wurden.
Auch heute noch wird im Vinschgau künstliche Bewässerung für den Obst- und Weinanbau genutzt, jedoch werden Rohre und Pumpen zum Transport verwendet. Fast alle jüngeren Apfelplantagen haben zwei Bewässerungssysteme: Bodennah wird der ausbleibende Regen ersetzt durch Tropfbewässerung aus Schläuchen. Zudem werden Sprühanlagen auf ca. 4 m Höhe (höher sollen die Obstbäume nicht wachsen, die eine Umlaufzeit von früher mindestens 10 Jahren, heute erheblich weniger haben) installiert, die bei Frost während der Blütezeit einen Kälteschutz für die Blüten bringen. Die Physik stellt dafür die sog. Kristallisationswärme bereit, die bei Aggregatsübergang des Wassers zu Eis abgegeben wird. Genial: Überfrieren als Frostschutz!
Die Apfelernte hat begonnen. Durch die standardisierten Obstbaumreihen werden Hebebühnen gefahren, auf denen zwei oder drei Erntehelfer stehen, die Äpfel pflücken und in Standardkisten legen. Kleine Traktoren transportieren die Kisten mit Staplergabeln zu den an den Plantagenrändern bereit stehenden Anhängern, auf denen die Kisten gestapelt und dann zu den Verarbeitungshöfen/fabriken gefahren werden. Auf den Straßen herrschte reger Betrieb.
Meist hindern Zäune die Radler, einfach mal anzuhalten und Mundraub zu praktizieren.
Südlich des Haidersees beginnt eine rasante Tour hinunter durch das Obere Vinschgau, immer mit grandiosem Blick auf die Ortler Alpen, die anzeigen, dass sich die Etsch bei Prad in Richtung Osten wendet und damit entlang der Ortler Alpen fließt.
Zwei beeindruckende kleine Städte liegen am Weg. Burgeis hat einen historischen Ortskern, der offensichtlich viele Radler zu einer Pause einlädt.
Am Ortsausgang liegt über der Burgruine liegt das Benediktinerstift Marienberg. In dem weitläufigen Ensemble ist ein Klostermuseum und ein schönes Café untergebracht.
Von Burgeis über Mals erstreckt sich die Malser Heide, deren Boden recht fruchtbar ist. Schon im 14. Jh. sind hier Wiesen- und Ackerbewässerungen geschaffen worden. In Waalen wird aus höheren Bergregionen das dort verfügbare Oberflächenwasser abgeleitet und ins Tal gebracht. Von dort aus ist ein Netz von Wassergräben durch die Wiesen- und Ackerflächen gezogen worden, über das nach einem fairen Reglement zunächst die Kornfruchtäcker und sodann die Mahdwiesen versorgt wurden.
Die Aufgaben der Erhaltung und der Zuflussregelung wurden genossenschaftlich vergeben. Es gelang unlängst (2024), die traditionelle Bewässerung als Immaterielles UNESCO-Kulturerbe anerkennen zu lassen. Waale sind auch im weiteren Verlauf des Etschtales anzutreffen, so z.B. in Schlanders.
Das Städtchen Mals liegt etwas abseits der Radroute; wir radelten hier also eine Alternativstrecke, die sehr schön durch die Wässerwiesenlandschaft (s.o.) führt. In Mals können mehrere keltisch-romanische Kirchen bestaunt werden. Die sehr alte Stadt liegt auf einem der sog. Schwemmkegel, die im Tal der Etsch entstanden sind und wegen ihrer geringeren Neigung schon in früher Zeit zur Besiedlung gewählt wurden. Für die ertragssteigernde Bewässerung wurde das og. Waalesystem angelegt, denn das Vinschau ist niederschlagsarm und zudem findet Winderosion statt, die den Boden austrocknet.
Besonders beeindruckend ist die Stadt Glurns, die noch vollständig von der mittelalterlichen Stadtmauer umgeben ist und kaum darüber hinaus erweitert wurde. Auf dem Marktplatz finden sich viele Radler und Motorradfahrer und andere Touristen ein. Diesem Versammlungsort erteilten wir gleichfalls eine Zusage und setzten uns zum Eisverzehr auf eine der Bänke am Brunnen.
Wir trafen nach vielen und oftmals rasanten Abfahrtskilometer gut gelaunt in Schlanders ein, wo wir im Bio-Hotel Anna einquartiert waren. Dort gab es ein delikates Fünf-Gänge-Menü und danach eine gute Nacht.
Fünfter Tag der Alpenquerung, Freitag, 20.09.2024: Von Schlanders nach Bozen (65 km, 270 Hm) und weiter nach Waidbruck und von dort nach St. Ulrich
Der Morgen in Schlanders: blauer Himmel und bestes Bio-Frühstück! So kann ein Radeltag beginnen, zumal fast nur noch Abfahrten auf dem Programm standen, der Etsch bis nach Bozen folgend.
Alpenpanorama: Bis Meran bilden die Ötztaler Alpen die nördliche Begrenzung des Vinschgaus. Die südliche Begrenzung bilden die Ortler Alpen. Zwischen Meran und Bozen wird gegen Nordosten das Etschal von den Sarntaler Alpen begrenzt, die auch die Eisack zwischen Bozen und Brixen im Westen begrenzen. Im Osten erheben sich über dem Eisacktal die Dolomiten. In die Dolomiten hinein führt das Grödnertal (ital. Val Gardena) mit dem Hauptort St. Ulrich (ital. Ortisei).
Das Etschtal ist recht weit und wird bis an die Hänge mit Apfelplantagen gefüllt. In Schlanders gab es kleine Rebfelder weiter oberhalb, aber der intensive Weinbau beginnt erst vor Meran.
So radelten wir also durch intensive Obstwirtschaft, was auf Dauer doch etwas ernüchternd wirkt. Gewiss, der Blick auf die hohen Berge im Norden (Ötztaler Alpen) und Süden (Ortler-Alpen) entschädigt etwas. In Latsch, Naturns, Rabland und Algund führen Seibahnen hinauf auf die Bergkette; an diesen Südhängen wird gewandert. Die Nordhänge der Ortler-Alpen werden nicht mit Bahnen erschlossen. Latsch ist bekannt für den weißen Marmor, der oberhalb des Dorfes (südlich) abgebaut wird.
Vor Algund machten wir eine Pause: grandiose Aussicht auf das Tal, in das eine sehr steile (14 %) Abfahrt hinunter führt. Hier oben ist ein Aussichtsplatz eingerichtet worden, mit großen Holzliegen, zu denen die ein Laubengang führt. Wohl kaum ein Touristenradler lässt diesen Fotospot aus, auch wir nicht.
In die Stadt Meran radelten wir entlang der Passer, bis wir zur dortigen Therme kamen. Auf der anderen Seite des Flüsschens verläuft die Flaniermeile des Kurortes. Und diesen Ort des Sehens und Gesehenwerdens mussten wir natürlich auch aufsuchen.
Wir ließen uns unter einer großen Kastanie am oberen Eingang der Passerpromenade bei einem Barrista nieder, der nicht nur Espresso und Eis verkaufte, sondern in Bedienpausen zur Gitarre griff und ausdrucksstarke italienische Lieder vortrug. An uns vorbei wandelte das Kurpromenadenpublikum, das keineswegs – wie vielfach behauptet – mindestens Ü80 ist. Also: wenig Rollatoren, auch Paare mittleren Alters und natürlich unsereins: die Bestager!
Dann schoben wir unsere Räder mit den Gepäcktaschen entlang der Promenade, was offensichtlich nicht zu den ortsüblichen Betätigungen gehört. So verließen wir Meran, die Perle Südtirols, besonnt vom Morgen bis zum Abend, und nahmen eine Route am südlichen Talhang entlang, also nicht über die Radlerautobahn entlang der Etsch. Auch hier oben: schier endlose Apfelplantagen.
In dieser Obstbauregion sollen 25 Apfelsorten angebaut werden. Wir meinten nur zweie zu sehen: den gelben Golden Delicious (übrigens: eine aus den USA stammende Züchtung) und einen roten Apfel, von dem es vermutlich mehrere Sorten gibt.
Wir folgten der Etsch auf dem weiterhin bestens ausgebauten Radweg und gelangten nach Bozen, eine Großstadt mit 100.000 Einwohnern, die Hauptstadt der autonomen Provinz Südtirol.
Für eine kurze Besichtigung der Altstadt war noch Zeit, dann nahmen wir am Bahnhof den Zug nach Waidbruck. Dort gab es zwar Fahrstühle am Bahnsteig, aber diese waren für unsere Räder erheblich zu kurz. Also wuchteten wir alles hinunter und hinauf und warteten dann im Bahnhofsbistro auf unser Shuttle, das uns dann – mit im kleinen Anhänger verstauten Rädern – hinauf nach St. Ulrich brachte. So ersparten wir uns einen doch sehr anstrengenden Anstieg von 770 Hm auf 13 km.
Sechster Tag der Alpenquerung, Samstag, 21.09.2024: durch das Val Duron hinauf zur Seiser Alm und über St. Christina zurück nach St. Ulrich (31 km, 1030 Hm)
So sah der Morgen hier aus:
Das Taxi-Shuttle kam pünktlich, der nicht mehr ganz junge, sehr freundliche Inhaber am Steuer, erklärend, dass er gar nicht mit Anhänger rückwärts einparken könne, was wir als Beobachter auch bestätigen konnten. Also: dieser freundliche und hoffentlich auch kompetente Mann chauffierte Harmut & Ute und Karl-Heinz über gut 30 km, um den Langkofel und Plattkofel herum über das Sella Joch und dann über viele Serpentinen hinunter nach Canazei und weiter nach Campitello. Eine für hiesige Verhältnisse ganz normale Tour, für uns eher eine alpine Mutprüfung. Wir trafen nach 30 km und einer Fahrzeit von fast einer Stunde erleichtert, aber auch begeistert von dem Dolomitenpanorama, das wir erleben konnten, in Campitello ein.
Ute fand gleich am Dorfplatz einen Bäcker und kaufte Brot, das eine nicht unbeträchtliche Ähnlichkeit zu unserem dunklen, also roggenhaltigen hat. In St. Ulrich hat die letzte Bäckerei schon vor Jahren geschlossen und der große Supermarkt bietet unter Brot etwas an, dessen Grundstoff aus einem Sägewerk stammen könnte.
Gotthard hatte sich entschlossen, seinem Knie einen Ruhetag zu gönnen, war in St. Ulrich geblieben und hatte die Standseilbahn hinauf auf den Raschötz genommen. Von dort hat er einen wunderschönen Ausblick.
Wir Drei starteten in Campitello bei Sonnenschein. Aber bei der Erwartung von 6 Grad waren wir warm gekleidet. Es ging gleich eine stark ansteigende kleine Straße hinauf und bald schon waren wir hoch über dem Dorf, mussten aber schon wieder pausieren und auf Sommerbekleidung wechseln. Auf den Wiesen blühten die Herbstzeitlosen – wunderbar!
In dieser schönen Wetterlage radelten wir durch den Waldgürtel weit hinauf und gelangten dann an den Duron Fluss und damit in das Duron-Tal (Val Duron), ungefährt dort, wo die Refugio Micheluzzi liegt, in die wir für ein zweites Frühstück und das Nachladen der Akkus einkehrten.
Der Weg durch das hier noch recht weite Duron Tal ist wunderschön. Im Voraus fällt der Blick auf auf die Bergkette des Molignon, rechts dazu gelegentlich schon zu sehen die Rosszähne, an deren Rand der Duron Pass hinüberführt auf die Seiser Alm.
Aber bis dahin waren noch schöne Feldwege, Geröllfelder des Duron Flusses, starke Steigungen mit Schotter und eisernen Querrinnen zu bewältigen sowie gefährlich kurvend an den die Steigungen hinauflaufenden Wanderern vorbeizukommen.
Der Duron Pass macht seinem Namen alle Ehre: Er ist hart zu nehmen und wenn man denn oben angelangt ist, dann tut sich ein grandioser Blick über die Seiser Alm auf die Bergwelt des Grödnertals auf.
Dann folgten die Abfahrten, bis fast zur Tirler Alm Hütte überwiegend schottrig, nicht selten ziemlich steil, so dass unsere altersschwachen Handgelenke Meldung machten. Aber solch eine Wegstrecke erfordert ständiges Lenken und Bremsen zugleich, duldet also keine Entspannungsübungen. Wir pausierten öfter, für Fotoaufnahmen, aber auch zur Erholung.
Bei Saltria, einem Hotspot der Skifreunde mit großer Hotelanlage und mehreren Liften, bogen wir ab und radelten wieder ein Stück bergauf zur Saltner Schweige, einem schön renovierten bzw. neu erbauten Gasthof mit Ausblick auf die Seiser Alm und den Lang- sowie Plattkofel.
Die Abfahrt blieb schottrig bis Monte Pana, das mit Parkplätzen die Skitouristen auf über 1200 Höhe lockt und mehrere Liftanlagen zu bieten hat. Das gesamte Skirevier ist Ute & Hartmut gut bekannt; sie entdeckten immer wieder Liftanlagen und Pisten sowie Almhütten, die sie besucht hatten.
Über steile Kehren sausten wir der Fahrstraße nach St. Christina hinunter und nahmen den Zuweg zur Via Sacun, in der sich unsere FeWo befindet. Was wir nicht wussten: dass diese Straße sehr hoch hinaufführt, in einen wüsten Schotterweg wechselt und fast so mühsam zu radeln war wie der Anstieg im Duron Tal.
Ein besonderer Tag ging zu Ende. Gotthard servierte delikates Schmorgemüse – und wir fragten uns, ob wir diese Tour unternommen hätten, wenn wir Genaueres über die Wegeverhältnisse und Steigungen gewusst hätten.
Siebter Tag der Alpenquerung, Sonntag, 22.09.2024: Seiser Alm Panorama Tour (St. Ulrich Kabinenbahn, Compatsch, Mahlknecht-Hütte, Saltria, St. Ulrich)
Am Sonntagmorgen begrüßen uns die Nachbarn, sowohl die faunischen als auch die geomorphologischen.
Von St. Ulrich nahmen wir die Gondelumlaufbahn, die hinauf auf die Seiser Alm führt. Der Mittransport der Fahrräder: kein Problem, einfach hingeschoben in die Gondel, war zwar etwas eng, dieses Vehikel, aber „passt“ (das meistgebrauchte Wort in den Restaurationen).
Und so schwebten wir ca. 1000 Hm hinauf zur Bergstation, die wie die gesamte Hochfläche der Seiser Alm von St. Ulrich aus nicht zu sehen ist, denn die Bergflanke ist sehr steil und der Ort liegt tief unten im Tal.
Auf dem Programm stand die Seiser Alm Panorama Tour, die vielleicht schönste Route auf dieser riesigen (ca. 56 qkm) Hochalm, mit fakultativer Erweiterung hinauf zur Tierser Alpl Hütte. Es war kühl hier oben auf 2008 m, und so radelten wir bei sonnigem Wetter und warm gekleidet los in Richtung Westen. Gotthard war mit dabei. Er hatte den Sattel ein paar Zentimeter höher gesetzt und klagte fortan nicht mehr über Kniebeschwerden.
Diese Wiesenlandschaft, die sich hier über die Hügel ausbreitet, wirkt geradezu idyllisch: saftiges Grün überall, ein Auf und Ab des Geländes, umrahmt das alles von Puflatsch und Schlern im Westen, von den Rosszähnen im Süden und von Platt- und Langkofel im Osten, dahinter auch zu sehen der Sellastock und die Marmolata. Im Norden liegt das Grödnertal, das eher nur erahnt werden kann (s.o.). Die sich nördlich anschließenden Gipfel hingegen bilden eine eindrucksvolle Kulisse, insbesondere die Seceda und in der Ferne gelegentlich zu erkennen die Puez-Gruppe mit dem markanten Stufengipfel des Sassongher.
In Compatsch herrschte reges Treiben; dies ist der Hotspot der Seiseralm. Hier endet die Seiseralm-Kabinenbahn, die für ständigen Nachschub an Touristen sorgt. Wir radelten dann doch lieber rasch weiter in Richtung Südosten. Über schmale geteerte Straßen ließ sich prima fahren. Erstaunlicherweise nutzen auch viele Wanderer diese Fahrstraßen.
An der Edelweißhütte legten wir eine Pause ein. Hier ließ es sich in der wärmenden Sonne gut aushalten. Unterhalb der Hütte ist ein kleiner künstlicher See angelegt worden, ein Wasserspeicher für die Pistenbeschneiung, deren Installationen häufig zu sehen ist. Wie kleine Lanzen stehen diese Sprühstangen an den Rändern der Abfahrtspisten. Die Skisaison wird im Dezember eröffnet und wenn der Klimawandel – wie zunehmend häufiger in den letzten Jahren – keinen Schnee gebracht hat, dann wird der gewünschte Untergrund halt künstlich hergestellt.
Die Panoramaroute führt auf die Rosszähne zu und steigt dabei deutlich an.
An der Mahlknechtshütte machten wir Mittagspause, in einem Nebenraum, der mit Zirbelkieferholz ausgestattet war, was einen besonderen Raumduft entstehen lässt.
Nach der Pause wurde die Gruppe geteilt. Hartmuts Gangschaltung ist seit seinem Sturz teildefekt; mehrere kleine Gänge lassen sich kaum schalten, also für steile Routen ein Problem. Und Gotthard sollte mit seinen schmalen Reifen und der Nexusschaltung besser nicht extreme Steigungen radeln. Ute verzichtete nach den gestrigen Erfahrungen auf steile Auf- und Abfahrten. Die Drei nahmen dann die Route über Saltria und von dort in Richtung Nordwesten über die Seiser Alm, um dann am Monte Püz durch das enge Tal nach St. Ulrich abzufahren. Dies ist die einzige direkte und fahrbare Wegverbindung von der Seiser Alm hinunter in den Ort.
Also machte ich mich allein auf den Weg zur Tierser Alpl Hütte, für die auf ca. 2 km ca. 300 Hm zu radeln waren. Die Steigungen sind überwiegend extrem und liegen bei 15 %. Der Untergrund ist nicht schlecht, kaum geröllig, selten grobschottrig, tw. mit Lochsteinen befestigt, aber auch feinschottrig, vor allem beim harten Anstieg kurz vor der Hütte.
Mit den Breitreifen und Turbo-Unterstützung war dieser Anstieg gut zu schaffen. Die Tierser Alpl Hütte hat sich von einem einfachen Hüttenquartier vor ca. 45 Jahren, als ich dort Station machte auf der Wanderung hinüber in den Rosengarten, zu einem modernen und großen Restaurant mit Gästezimmern verändert. Draußen saßen nur wenige Touristen, denn es war dort oben auf 2400 m und bei durchziehenden Wolken sehr kühl. Aber drinnen herrschte reger Betrieb, meist von Wanderern, die erhebliche Anmarschstrecken hinter sich haben mussten, denn diese Hütte liegt abseits der Seilbahnen. Es standen nur 4 Mountainbikes vor der Hütte, was mich erstaunte.
Die Abfahrt machte mir weitaus mehr zu schaffen als der Aufstieg, weil diese extrem steilen Passagen und der lose Untergrund den stark zu bremsenden Reifen nicht genug Grip boten. So musste ich absteigen und vorsichtig bremsend „schieben“.
Die Abfahrt zum Dialer hatten wir ja schon am gestrigen Tag genommen. Heute dann ab dort die Route durch die grünen Wiesen, allerdings mit einem erheblichen Anstieg verbunden.
Unterhalb der Bergstation führte die Route dann steil hinab auf einer schmalen Fahrstraße, durch ein enges Tal, tw. von Baumaschinen bearbeitet, die zum Glück heute Pause machten. Die Fahrbahnabbrüche am Abhang waren doch beunruhigend. Die begonnene Sanierung muss zunächst mit Beton gefüllte Rohre in den Hang bringen und danach die abgesackte Fahrstraße auffüllen.
In St. Ulrich trafen wir uns wieder im Café Adler, das mitten in der stark frequentierten Fußgängerzone liegt. Wir waren uns einig: Diese Seiser Alm Panorama Tour hatte ihr Namensversprechen eingelöst.
Achter Tag der Alpenquerung, Montag, 23.09.2024: Rückreise von St. Ulrich per Rad nach Brixen, weiter per Bahn
Wir mussten früh aufstehen: 5 Uhr, dann kurzes Frühstück und um 6 Uhr ging’s auf die gepackten Räder und dann hinunter nach Klausen über die Landstraße. Eine rasante Abfahrt begann, zum Glück bei noch wenig Verkehr, ca. 800 Hm sausten wir kurvenreich hinunter. Leider gab es waghalsige Überholer, die ohne hinreichende Sicht auf den entgegenkommenden Verkehr einfach auf der linken Spur an uns vorbei rasten, sogar bei der Einfahrt in einen Tunnel.
Sonnenaufgang also bei der frühen Talfahrt, in Klausen endlich „unten“ angekommen im Eisach-Tal.
In Brixen durften wir dann noch einen Hocheinstieg erproben, in den Railjet nach Wien, in dem es allerdings unsere 4 Fahrradstellplätze gab. Von Kufstein bis München fuhren wir mit dem Regionalexpress und von München nach Hannover mit dem ICE, insgesamt also ca. 11 h Zugreise. Ein kleines oder großes (?) Abenteuer ging zu Ende.