Tour de Natur 2024: von Magdeburg nach Kassel

Sonntag, 21.07.2024, zweiter Tag der TdN 2024: Exkursionstag in Magdeburg, Radtour nach Barby zum Elbe-Saale-Camp

Bei bestem Sommersonnenwetter radelten ca. 60 Touries vom Quartier, der Waldorfschule Magdeburg, durch die Landeshauptstadt, querten die Elbe und folgten dann dem (rechtsseitigen) Elbradweg in Richtung Süden. Schon bald nach Verlassen des Siedlungsgebietes wurden sie mitten ins Thema des Exkursionstages geführt: Naturschutz.

Radeln durch die Elbauen – eine großartige Natur- und Kulturlandschaft zeigt sich hier mit Solitärbäumen, oftmals Eichen, die aus den weiten Wiesenflächen emporragen, ab und an kleinere Gehölze oder gar hoch aufgewachsene Waldstücke und dazwischen: extensive (also nicht intensive) Landwirtschaft zur Heugewinnung, aber tw. auch zum Getreideanbau. Diese offene Landschaft bleibt nur offen, wenn diese bewirtschaftet und damit offen gehalten wird. Und die Auenwälder bleiben nur, wenn sie hinreichenden Wasserzugang haben.

Auenwald nahe der Elbe bei Pretzien

Am Petziener Wehr gab es einen Infostopp. Dieses technische Bauwerk wurde 1875 fertiggestellt. Bei Elbhochwasser werden die Schotten gehoben. Der Elbstrom kann dann einen Teil der Wassermassen in den Elbumflutkanal, die „Alte“, einst mäandrierende Elbe bringen und damit die Gefahr einer Überflutung der niedrig gelegenen Teile Magdeburgs erheblich mindern, was aber bei Extremhochwassern wie 2013 „lediglich“ eine Senkung des Elbpegels um ca. 50 cm ausmachte. Ganze Stadtteile von Magdeburg mussten damals geräumt werden. Dieses europaweite Extremwetterereignis zeigte die schon jetzt eintretenden fatalen Folgen des Klimawandels. Zugleich wurde damit deutlich, dass die Elbe mehr „Bett“ braucht, also auch die weiten Auenwälder und die alten Elbarme.

Die Radroute führte dann nah an die Elbe heran. An einer gut zugänglichen Uferstelle erwartete Ernst Paul Dörfler die Touries, ein Experte für die Ökologie der Elbauen und ein vielgefragter Referent und Buchautor. Im Verlagstext zu „Aufs Land: Wege aus Klimakrise, Monokultur und Konsumzwang“ (München: Hanser, 2021) liest Frau und man dazu: „Wir haben den Blick für das Wesentliche verloren: unser Wohlergehen und das der Natur. Wir leben in engen Städten. Wir arbeiten viel, um immer mehr zu konsumieren. Leidenschaftlich und kompetent ruft der Ökologe Ernst Paul Dörfler dazu auf, endlich auszubrechen und nachhaltige Lösungen zu finden. Der Weg dorthin führt aufs Land. Als unbequemer Umweltschützer schon in der DDR vermittelt er glaubhaft wie kein Zweiter, was freies und selbstbestimmtes Leben bedeutet und wie es gehen kann. Wer weniger braucht, muss weniger arbeiten und verdienen, schont zugleich die natürlichen Lebensgrundlagen, lebt zufriedener und gesünder.“

Bei beträchtlicher Sommerhitze lagerten die Touries am Elbstrand im Schatten der dort wachsenden Pappeln und erfuhren, dass die Elbe die größten Auenflächen Europas an ihren Ufern hat.

Gefährdet wird diese einzigartige Landschaft durch das noch immer in Planung befindliche Vorhaben, die „Bundeswasserstraße Elbe“ zu einem frachtschiffgängigen Fluss zuzurichten, was eine erhebliche Vertiefung erforderlich machte, die dann wiederum den eh schon niedrigen Grundwasserspiegel der Auenlandschaft noch weiter senkte und damit das Austrocknen der Auenwälder forcierte. Was in der Öffentlichkeit kaum bekannt ist: Die Elbe ist ein überwiegend ungestauter Fluss, der im Sommer Niedrigwasserstände von weniger als einem Meter hat. Eine Frachtschifffahrt auf diesem Fluss oberhalb von Geesthacht – hier ist das im Flusslauf erste Stauwerk errichtet worden – zu ermöglichen, erforderte immense Investitionen und schädigte die Flusslandschaft massivst.

Bei hochsommerlicher Hitze radelten die Touries nun in Richtung Barby weiter. Die meisten querten die Elbe über die einstmalige Eisenbahnbrücke, die nach der sog. Wende nicht wieder in Funktion gebracht worden ist.

Die Alternativroute führte per Schiff in Barby über die Elbe – mit Nutzung der Gierseilfähre. Auf der linken Elbeseite nah beim Fähranleger hat das Elbe-Saale-Camp seinen Standort und erwartete die Tour de Natur als Gäste.

Versammlungs- und Gemeinschaftszelte des Elbe-Saale-Camps bei Barby

„Seit 1993 führen Mitglieder dieses Aktionsbündnisses im Mündungsbereich der Saale ein mehrtägiges internationales Camp durch, um auf die unumkehrbaren Folgen der geplanten (und zum Teil bereits realisierten) Baumaßnahmen hinzuweisen. Das Aktionsbündnis zählt zu den Mitbegründern des Netzwerkes Flusslandschaften Elbe-Saale-Havel-Oder.“ (Text von dem Homepage des Camps).

Ernst Paul Dörfler lud Touries und Camp-Aktivisten zu einer kleinen vogelkundlichen Exkursion ein. In unmittelbarer Nachbarschaft des Camps wohnt eine fünfschnäbelige Storchenfamilie auf ihrem Horst und schaute gelassen auf die selbst unten im Schatten noch schwitzenden Menschen hinab.

Storchennest am Elbe-Saale-Camp

Die Ausführungen von Ernst Paul Dörfler zum „Liebesleben der Vögel“ – so der Titel seines just erschienenen Buches (München: Hanser) spendeten Trost und Sorge zugleich. Den Störchen und großen Raubvögeln (ganz in der Nähe befindet sich auf einem Hochspannungsmast das Nest einer Seeadlerfamilie) darf monogames Verhalten oder zumindest „Horsttreue“ und nachfolgend Wiederbeginn der Horstgemeinschaft mit dem letztjährigen Horstabschnittsgefährten attestiert werden. Bedenklicher stimmen die Nachrichten über die kleinen Gefiederten: „So leben Vögel weit weniger monogam, als häufig angenommen, und der Klimawandel verstärkt diese Tendenz sogar noch: Extreme Schlechtwetterlagen beflügeln den Partnerwechsel unter Vögeln.“ (Verlagstext)

Wams Küche versorgte die Touries mit einer schmackhaften Mittagsmahlzeit. Die Bäckerin des Camps hatte leckere Kuchen vorbereitet, so dass reichlich geschlemmt werden konnte.

Jutta Röseler, die sich seit vielen Jahren als Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins Flussregenpfeifer für das alljährliche Elbe-Saale-Camp engagiert, begrüßte die Touries und schilderte die Aktivitäten des Camps, das in seinem Programm einiges zu bieten hat.

Dann wurde es Zeit, die Rückfahrt anzutreten. Leider zog ein Gewitter auf, und die nochmals 35 km per Rad zurückzulegen, das war die eine Möglichkeit, von der – dem Regen und Sturm trotzend – die meisten Touries Gebrauch machten. Nicht unwesentlich trug zur Stimmungsverbesserung der Reggae-Sound bei, den Ivo und Celina vom Lastenrad aus in die Radlergruppe diffundieren ließen. Und die anderen nutzten die Regionalbahn; Bahnhöfe gab’s mehrere an der Strecke.

Die Rückfahrt der Touries erfolgte – wie standardmäßig bei der Tour de Natur – als angemeldete Demonstration, muss also mit den Ortspolizeibehörden abgestimmt und von diesen genehmigt und begleitet werden. Dieser durchaus hilfreiche Service – manche Autofahrer:innen verstehen besser, dass eine große (= lange) Radlergruppe nicht einfach überholt werden kann (und darf), wenn sie auf ein solches Dienstfahrzeug am Ende der Tour blicken – fiel angemessen aus: Es reichte ein Polizei-Bulli als Schlussfahrzeug. Die Tour sichert an Kreuzungen/Einmündungen und unterwegs im Seitenbereich durch ihre eigenen Ordner und das hat sich wieder mal bewährt.

Montag, 22.07.2024, 3. Tag der Tour de Natur: von Magdeburg nach Helmstedt (59 km)

Heute startete die Tour de Natur pünklich, also kurz nach 09:30 Uhr, mit ungefähr einhundert Radler:innen – nach gutem Frühstück aus Wam’s Küche: Müsli oder warmer Brei und/oder Brot mit veganen Aufstrichen oder Marmelade oder Erdnussmus, dazu Tee oder Kaffee.

Die Einnahme des Frühstücks fand vor der Turnhalle der Waldorfschule Magdeburg statt. Hier fehlten Bänke oder andere Sitzgelegenheiten; die Stufen der Treppe zum oberen Schulareal dienten manchen als Ersatz. Jetzt durchaus häufiger zu sehen: mitgeführte eigene Sitzmöbel wurden aufgestellt.

Wie schon am Vortag hatte wiederum Sebastian den Hut auf für (vulgo: leitete) diese Tagestour, die nun „auf Strecke“ ging und von Magdeburg über Wanzleben nach Eilsleben, also durch die Magdeburger Börde führte, um dann nach Morsleben und weiter Helmstedt zu gelangen, das zwischen Lappwald und Elm gelegen ist.

Erstes Etappenziel war jenes Areal am Rande des Dörfchens Schleibnitz, das ungefähr 15 km entfernt von Magdeburgs Innenstadt und ungefähr 7 km vom Siedlungsgebiet des Vorortes Ottersleben liegt. Schleibnitz wird umgeben von der Magdeburger Börde, einer intensiv (nicht extensiv) bewirtschafteten – vom Weizen- und Zuckerrübenanbau in großen, oftmals riesigen Feldschlägen geprägten, weitgehend ebenen Landschaft –, deren Boden sehr fruchtbar ist.

Hier am Rand der Feldmark von Schleibnitz erwartete die Touries ein Experte: Jürgen Hartmann, Berater für ökologischen Landbau i.R. und Kenner sowohl der agrarwirtschaftlichen und der landschaftsökologischen Entwicklung als auch der Bebauungsplanung der gesamten Region. Auf einer Ackerfläche von 400 ha bzw. 1000 ha, wenn künftige Bauvorhaben und die Ansiedlung von Zulieferbetrieben auf 1000 ha berücksichtigt werden, soll die Intel-Chip-Fabrik entstehen.

Wirtschaftspolitisch werden mit diesem Großprojekt mehrere Ziele verfolgt: Reduzierung der Abhängigkeit deutscher und europäischer Firmen vom von China bedrohten Taiwan, dem Standort des Weltmarkführers in avancierter Chipherstellung, sowie Schaffung von 8000 Arbeitsplätzen hier – und das heißt auch: in den neuen deutschen Bundesländern, die vom Ende des Braunkohlentagebaus und der Braunkohlenverstromung massiv betroffen sind (die Tour de Natur befasste 2015 sich mit diesem Problem insbesondere in Cottbus: Diskussion mit Vertretern von Vattenfall und der IG BCE Bezirksvertretung). Ungefähr 10 Milliarden Euro werden in das ca. 30 Milliarden kostende Intel-Projekt als Steuermittel fließen. Zum Vergleich: Der gesamte Landeshaushalt beträgt für Sachsen-Anhalt im Jahr 2024 ca. 13 Milliarden Euro. Damit ist klar: Hier müsste fast der gesamte Landeshaushalt verausgabt werden – oder die Steuereinnahmen des Bundes fließen in dieses Unternehmen.

Das vermutlich größte ökologische Problem der Intel-Chip-Fabrik ist deren Wasserverbrauch, der – so hob Jürgen Hartmann hervor – in einer Region stattfinde, die eh unter erheblichem Niederschlags- und Grundwassermangel leide. Die Magdeburger Börde liegt im Windschatten des Harzes, hat zwar die höchsten Boden(güte)punkte, aber bringt bei konventioneller Landwirtschaft nur dann höchste Erträge, wenn die Feldfrüchte mit Grundwasserentnahme gewässert werden, was wiederum den hier eh niedrigen Wasserspiegel nochmals reduziert. Obendrein, so Jürgen Hartmann, sind die so erzeugten Pflanzen deutlich „schwächer“ als jene, die im ökologischen Landbau wachsen, und müssen deshalb mit hohen Dosen an Pestiziden „behandelt“ werden. Das ist auch ein „Geheimnis“ des so ertragreichen, konventionellen Anbaus auf Deutschlands besten Böden.

Die Methode der industriellen Landwirtschaft ist in den LPG-Betrieben der ehemaligen DDR eingeführt worden. Auf den heutigen, noch immer riesigen Feldschlägen, die von Agrargenossenschaften oder Argrarfimen, d.h. den Rechtsnachfolgern der LPGs und Volkseigenen Güter, bewirtschaftet werden, sind noch häufig Brunnenringe zu sehen. Bewässerungskanonen verteilen dieses wertvolle Grundwasser nicht nur in den Boden und dort nach Abzug der Verdunstungsmenge an die Pflanzen, sondern – bei solch einem sommerheißen Tag wie heute in beträchtlichem Maße – auch in die Atmosphäre.

Obendrein sind die meisten Hecken(gehölze) in der Magdeburger Börde zugunsten der Maximierung von Anbauflächen entfernt worden. Die erheblichen mikroklimatischen Effekte der Hecken (insbes. Verminderung der Windaustrockung) sind damit ebenso verloren gegangen wie die Kleinbiotope, die Vögeln und Insekten in diesen Hecken Lebensraum boten.

Der Wasserbedarf der Intel-Fabrik soll das Mehrfache von dem betragen, was die Tesla-Fabrik den trockenen Sandböden Brandenburgs entnimmt. Aber nicht nur die Menge ist riesig, auch die für die Chipproduktion geforderte Wassergüte (Trinkwasserqualität) lässt ein kaum lösbares Problem aufkommen. Die Stadt Magdeburg bezieht einen beträchtlichen Teil ihres Trinkwassers aus der bewaldeten Heide um das ca. 30 km nördlich gelegene Colbitz (den Truppenübungsplatz Colbitz-Letzlinger Heide besuchte die Tour de Natur im Jahr 2015), die als Grundwasserspeicher nicht weiter belastbar ist.

Als Ersatzressource wird erwogen, das saubere Wasser aus dem Drömling (die Tour de Natur wird diese Region am Folgetag durchradeln) zu gewinnen. Dieses im 18. Jahrhundert trockengelegte Moorgebiet emittiert wie alle nicht wiedervernässten Moore große Mengen Kohlendioxid. Deshalb wird dort in einem Langzeitprogramm der Wasserspiegel kontinuierlich angehoben, was den zwischen den Entwässerungsgräben Wiesenmaht und tw. auch Ackerbau betreibenden Landwirten sehr zuwider läuft. Den Drömling also als Wasserquelle für den Bedarf des Intel-Werks anzuzapfen, würde die CO2-Emissionen des dann wieder unter Sauerstoffzufuhr sich zersetzenden Torfes massiv erhöhen.

Bleibt noch die Idee, zur Wassergewinnung den nahegelegenen Fluss, die Elbe, anzuzapfen. Über deren fatale Wasserbilanz in den trockenen Jahreszeiten gab es ja schon am Vortag Informationen von Ernst Paul Dörfler. Touries ergänzten, dass einige der stillgelegten Braunkohlentagebaue in der Lausitz bereits mit Elbwasser „geflutet“ (= jahrzehntelang befüllt) werden und nach dem jetzigen Ende des Braunkohlenabbaus noch sehr viel größerer Wasserbedarf für die Auffüllung der nun offen gelassenen Geländelöcher entstehen wird.

Obendrein gibt es prominente, neue Elbwasserinteressenten. Die – 2015 von der Tour de Natur im Spreewald besichtigte – Verockerung der Nebenbäche bzw. Zuflüsse durch eisenhaltige Ausschwemmungen der aufgeschütteten Tagebaufolgelandschaften kann vermutlich nicht mehr durch Absetzbecken allein aufgefangen werden. Das Einfließen von für Tiere und Pflanzen giftigen Eisenoxids sowie der schädlichen Schwermetalle, des Arsen (Gift) und der radioaktiven Stoffe in das Spreewasser lässt sich kaum mehr aufhalten. Damit wird auch die spreewasserbasierte Versorgung Berlins gefährdet. Die saubere Elbe sollte dann helfen …

Kurzum: All diese Planungen illustrieren, dass auch in Deutschland die Folgenlast von Großprojekten in einen regionalen Umverteilungskampf übergeht, in dem einige Regionen ihren Vorteil finden und zugleich andere noch weiter belastet und ausgebeutet werden. Die Tour de Natur fährt deshalb auch zu den „Verlierern“ dieses ruinösen Zugriffs auf unsere Lebensgrundlagen, um ihnen öffentliche Aufmerksamkeit und Unterstützung zu bieten und daran zu erinnern, dass letztlich wir alle die Verlierer sein werden.

In dem kleinen, mit Kopfsteinpflaster aufwendig sanierten Städtchen Wanzleben wurde in der Nähe des Marktplatzes eine Pause eingelegt. Öffentliche Toiletten waren dort vorhanden. Auch diese (sanitäre) Versorgung der Touries wird bei der aufwändigen Streckenplanung mitbedacht.

Zur Mittagsrast radelte die Tour weiter durch die Börderegion in die Kleinstadt Seehausen. Auf dem Areal des Sportplatzes am südlichen Ortsrand hatte Fläming-Kitchen schon alles für die Mittagsmahlzeit vorbereitet

Am frühen Nachmittag führte die Etappe nach Eilsleben, wo einige Touries den Bahnhof aufsuchten, um zum Etappenziel Helmstadt zu reisen. Auch der Schreiber dieser Zeilen musste dort Feder und Tinte aus der Hand legen, um für eine Unterbrechung von sieben Tagen der Tour fernzubleiben.

Die Tour radelte weiter nach Morsleben, einem besonders heiklen Kapitel deutsch-deutscher Umweltpolitikgeschichte, um die Tagestour danach in Helmstedt mit einer Kundgebung zu beenden.

Dienstag, 30.07.2024, 11. Tag der Tour de Natur: von Hildesheim nach Bad Gandersheim (52 km)

Bei bestem und am Morgen fast schon heißem Sommerwetter startete die Tour de Natur mit 130 Radler:innen am Quartier der Waldorfschule Hildesheim. Regine hat den „Hut“ der Tourleitung übernommen.

Die Route führte zunächst durch die Altstadt und bot nochmals einen Eindruck von den verkehrsplanerischen Problemen, die eine einstmalige Fachwerkstadt mit engen Gassen aufkommen lässt, wenn der KfZ-Verkehr (und ein wenig Radverkehr) nach 1945, der weitgehenden Zerstörung der Stadt, beim raschen Wiederaufbau durch solch ein Wegenetz hindurchgeführt wird. Das resultierte auch in Hildesheim in einer massiven Verdrängung des Radverkehrs z. B. von der zentralen Durchgangsstraße, der Schuhstraße, die nun von den Touries – wiederum unter Polizeieskorte – fast gänzlich genutzt werden konnte. Geht doch, könnte man sagen … .

In der kommunalen Politik ist eine solche umweltfreundliche Umwidmung jedoch mit fortwährenden Konflikten verbunden, die mit den bekannten und durchaus empirisch widerlegbaren Argumenten von einigen Protagonisten unter Führung der CDU-Ratsfraktion aufrecht erhalten werden: unzumutbarer Verlust von PKW-Parkflächen und umsatzschädliche Reduzierung der PKW-Zugänglichkeit der Innenstadt.

Dass Hildesheim auch eine Universitätsstadt ist, lasen die Touries auf den Hinweisschildern im Ortsteil Marienburg; dort befindet sich der Hauptcampus der Universität Hildesheim sowie angrenzend die Fachhochschule (HAWK: Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst), die zusammengenommen 10.000 Studierende haben.

Eine Pause legte die Tour auf dem sog. Kulturcampus der Universität ein, der am südlichen Ortsrand auf der Domäne Marienburg eingerichtet worden ist. In dem spätmittelalterlichen Ambiente einer Trutzburg, die nach dem Reichsdeputationshauptschluss in eine Staatsdomäne mit verpachteter Landwirtschaft umgewandelt und durch fachwerkliche Zweckbauten erweitert worden war, sind die Studiengänge des Fachbereichs Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation untergebracht, insbesondere der Studiengang Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie das Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur (mit eigener Probebühne), das Institut für Bildende Kunst (untergebracht mit Werkstätten in der eindrucksvoll restaurierten Scheune) sowie das Institut für Musik (mit Proberäumen).

Nach diesem auch für den Toilettengang nutzbaren Pause radelte die Tour weiter und querte das Tal der Innerste, die aus dem Harz kommend, dort in einem Stausee zur Trinkwassergewinnung und Hochwasserregulierung geleitet, durch ihr Tal fließt, umgeben von den Erhebungen des Vorderharzes. Eine Tourteilnehmerin erinnerte daran, dass dieser Fluss in den letzten zwanzig Jahren bereits zweimal durch extreme Hochwasser für Überschwemmungen verursacht hat, die nicht nur die schönen historischen Gebäude der Domäne Marienburg unter Wasser setzten und massiv beschädigten, sondern auch in den kleinen Dörfern des oberen Flusslaufs für große Schäden sorgten. Erweiterte Deichbauten sind daraufhin geplant und zu einem beträchtlichen Teil errichtet worden, aber die zudem notwendigen Überflutungsflächen stehen nicht (mehr) zur Verfügung. Die Folgen des Klimawandels sind – auch – im Innerstetal nicht mehr zu übersehen. Und im weiteren Umfeld: Die Folgen eines zu hohen Wasserstands in der Innerste auf den Wasserstand der Leine (in diese mündet die Innerste bei Sarstedt, südlich vor Hannover) sind fatal.

Weiter ging es aus dem Tal der Innerste hinauf in das Lammetal, das von gleichnamigem Bach, allenfalls ein Flüsschen, durchflossen wird. Dessen Hochwasser sorgte für massive Schäden in der Altstadt von Bad Salzdetfurth, dem hübschen Fachwerkstädtchen, das die Tour de Natur zu einem Zwischenstopp in den Salinenbereich des Kurparks eingeladen hatte. Bürgermeister Andreas Humbert begrüßte die Touries. Er schilderte, dass die Stadt mit fünf Bahnstationen die sog. Lammetalbahn nutzt, die in der 2000-er Jahren reaktiviert worden ist und von Bodenburg nach Hildesheim führt. Zudem hat die Stadt ein zusätzliches Busangebot eingeführt, den Salze-Bus, der in dem langestreckten Ort die Ortsteile verbindet.

Andreas Humbert, Bürgermeister von Bad Salzdetfurth, begrüßt die Tour de Natur am Gradierwerk

Björn Grischka, der Kurdirektor des Ortes, machte auf die beiden in Betrieb gehaltenen Salinen aufmerksam, die im oberen Teil des weitläufigen Kurparks betrieben werden. Im vergangenen Jahr ist ein Salzmuseum eingerichtet worden, das die Geschichte des – aufgegebenen – Kalibergbaus illustriert.

Sehr beliebt bei einer besonderen Teilpopulation der Fahrradfahrer ist der am Ortsrand eingerichtete Bike-Park. Hier suchen Mountain-Biker ihre Herausforderungen bzw. hier finden bundesweite Wettbewerbe für die immerhin Olympische Disziplin des Cross Country statt.

Gegen 13 Uhr traf die Tour de Natur in dem kleinen Städtchen Lamspringe ein und konnte dort die von Fläming Kitchen vorbereitete Mittagsmahlzeit einnehmen – unter schattenspendenden Bäumen  im Hof des ehemaligen Klosters, das nun die Stadtverwaltung beherbergt.

Andreas Humberg, der Bürgermeister von Lamspringe, begrüßte die Tour de Natur, für deren zentrale Anliegen er in seiner Stadt einiges vorweisen kann. Lamspringe ist eine „Global nachhaltige Kommune“, die ein anspruchsvolles Konzept zur Nachhaltigkeit in vielen Bereichen des städtischen Lebens und der Stadtverwaltung ausgearbeitet hat. Zudem ist die Stadt als „Fair Trade Kommune“ zertifiziert. Und schließlich hat die Stadt das Zertifikat „Kinderfreundliche Kommune“ erhalten.

In der Verkehrspolitik musste der Bürgermeister zunächst einräumen, dass die ÖPNV-Anbindung von Lamspringe in die Region eher dürftig sei. Als lokale Maßnahme hat die Stadt allerdings ein Car-Sharing- und ein auf ehrenamtlicher Basis betriebenes Bürgerbus-Angebot eingerichtet.

Ingmar Heinz führte die daran interessierten Touries durch die ehemalige Klosterkirche (Bau aus dem 17. Jh.), deren Kirchenschiff unerwartet hoch und groß ist und einige kunsthistorische Schätze zu bieten hat. Die Klosterkammer verwaltet – ebenso wie die zuvor besuchte Domäne Marienburg – die Ländereien und die Baulichkeiten des einstmaligen, 1803 aufgehobenen Klosters bzw. des Klostergutes.

Um 15 Uhr wurde weiter geradelt, nach Bad Gandersheim. Eine Teilgruppe löste sich aus der Fahrraddemo und radelte den dorthin führenden „Skulpturenradweg“, der eine prima Asphaltdecke aufweist und nur geringe Steigungen: eine zum Radweg umgebaute Nebenbahntrasse.

In Gandersheim sammelte sich die Gesamtgruppe wieder, in direkter Nachbarschaft zum dortigen romanischen Dom, dessen Vorplatz wie schon seit etlichen Jahren für die hochsommerliche Aufführung der sog. Domfestspiele genutzt wird.

Eine erstaunlich breite und kaum frequentierte Straße führt von Gandersheim hinauf zum Dorf Heckenbeck, dem Etappenziel der heutigen Tour. Dieses kleine Dorf (500 Einwohner) ist einzigartig, in vielerlei Hinsicht. Im Gegensatz zu allen Dörfern der Region gibt es hier keinen Bevölkerungsrückgang, sondern eine kontinuierlich wachsende Zahl von Dorfbewohnern. Das liegt daran, dass Heckenbeck einiges zu bieten hat: die Freie Schule und den Kindergarten Pusteblume (Träger: Verein „Aktives Leben und Lernen e. V.“), das Kulturzentrum Weltbühne, einen Bioladen, eine Solawi (Solidarische Landwirtschaft), einen Meditationspavillon (Träger: Verein „Klang der Stille“) und ein Dorfgemeinschaftshaus sowie ein Dorfareal mit ökologisch erbauten Häusern, oftmals mit Strohballendämmung errichtet. Eine nicht nur von den Neu-Heckenbeckern sehr geschätzte ärztliche Gemeinschaftspraxis gibt es zudem im Dorf. Hierher sind in den letzten zwanzig Jahren etliche junge Familien gezogen und weitere kommen hinzu.

Am Dorfplatz empfing Ricarda Polzin die Touries. Sie war bestens vorbereitet, ein Gruppe von ungefähr 100 etwas müden, leicht sonnenverbrannten Touries auf drei Übernachtungsquartiere und zwei Zeltareale aufzuteilen. Und sie organisierte die zeitgleiche Dorfführung für mehrere Interessengruppen mit folgenden Schwerpunkten: allgemeine Dorfführung; Freie Schule; Solidarische Landwirtschaft; Meditationshaus; Kulturzentrum Weltbühne; Strohballenhausbau.

Auf der allgemeinen Dorfführung wurde das Nebeneinander, jedoch auch das Miteinander der beiden sozialen Gruppen im Dorf beschrieben. In den verschiedenen Vereinen (Schützenverein, Bürgerverein, Schulverein u.a.) arbeiten die Menschen zusammen und versuchen, für das Dorf passende Entscheidungen zu treffen. In einigen Vereinen haben dort die Eingesessenen die Mehrheit, in anderen die Neu-Heckenbecker. Einige Vorhaben sind allerdings unmittelbar auf die Mitwirkung von alteingesessenen Dorfbewohnern angewiesen, so z. B. die SoLaWi, die Ackerflächen für den Gemüsenanbau benötigt. Auch für Neubauvorhaben ist ausgewiesenes Bauland gefragt, das baurechtlich vorhanden ist, aber privatrechtlich nicht durchweg angeboten wird. Ein Grund dafür ist, dass Baugrund von alteingessenen Familien für ihre Kinder zurückgehalten wird, wenn diese im Dorf bleiben oder dorthin zurückkehren möchten.

Es gibt kein Gremium, in dem alle (zentralen) Belange der Dorfgemeinschaft miteinander verhandelt werden können. Ein Ortsrat ist in kleinen Dörfern nicht vorgesehen. Allerdings sind die Wahlämter des Ortsvorstehers und dessen Stellvertreters besetzt. Letztere Funktion ist an eine Neu-Heckenbecker:in vergeben. Ein informelles Miteinander und Sich-Abstimmen findet auf den sog. Klönabenden statt. Sehr gut genutzt wird der dorfbezogene E-Mail-Verteiler, über den vieles kommuniziert wird.

Gleichwohl stellt sich auch für das Dorfprojekt Heckenbeck die grundlegende Frage, wann eine Dorfgemeinschaft zu „groß“ werden könnte. Sind es vielleicht 300 Dörfler, die sich noch alle untereinander kennen können? Dann wäre Heckenbeck schon zu groß gewachsen. Aber es könnte ja in anderen Dörfern der Umgebung ähnliches versucht werden … .

Interessant auch das Konzept und die Praxis der Freien Schule Heckenbeck, die es seit knapp 25 Jahren als anerkannte Ersatzschule in privater Trägerschaft gibt. Das Kollegiumsmitglied Katja gab eine Führung durch die Schule. Der Schulverein ist Träger, ihm gehören die Räumlichkeiten, die einst als Bauernhaus mit Viehaltung genutzt wurden. Das alles ist um- und ausgebaut werden und bietet 125 Schüler:innen (genannt: Schülis) ein Haus zum „selbstbestimmenten Lernen“. Zehn Altersjahrgänge besuchen die Schule und verbringen ihre Schultage in interessenbasiert gewählten Kleingruppen. Die 13 festangestellten Lehrpersonen und die mehr als 20 zusätzlich tätigen Personen bieten den Schülis auch Gelegenheiten zum Erlernen des Lesens, Schreibens und Rechnens sowie zum Erwerb von jenen Fähigkeiten, die im Curriculum der Staatsschule auf diverse Unterrichtsfächer verteilt sind.

Die Absolventen der Schule seien, so die Einschätzung der Lehrpersonen und Eltern, fast durchweg sehr selbstbestimmte, engagierte junge Menschen, die in weiteren Bildungsgängen (z. B. gymnasiale Oberstufe oder Berufsbildung) erfolgreich abschneiden.

Das Abendessen wurde auf dem Areal der Freien Schule eingenommen. Am Abend trat dort der bekannte Protestsänger Sascha Salossi auf, der schon die Tagesetappe mitgeradelt war, auf einem Lastenrad sein Musikequipment mitführend. Sascha ist auf der Tour de Natur schon mehrfach aufgetreten, so z. B. im Jahr 2019 auf einem Abend in der Freien und Waldorfschule Hitzacker. Die Touries waren wieder begeistert. Und zum Abschluss sangen die „jungen Touries“ als Chor und begleitet von Gitarre, Geige und Percussion das Lied der „Tour de Natur“. Das war ergreifend, ganz besonders für die älteren Touries und die Urgesteine: Mit dieser Generation kann „es“ weiter gehen!

Mittwoch, 31.07.2024, 12. Tag der Tour de Natur: von Heckenbeck nach Uslar (53 km)

Laue Sommernacht in Heckenbeck, Frühstück bei warmer Sonne im Hof der Freien Schule – so konnte es bei bester Stimmung losgehen, auf die allerdings durchaus hügelige Strecke durch das Weserbergland hinein und hinauf in den Solling – und das bei hochsommerlichen 30 Grad. Etwas Kühlung für Radler bringt dabei der sanfte Fahrtwind, aber bei Pausen nur der Schatten, für die Touries, die Räder aus Platzgründen in die Sonne. Den heutigen Tourhut hat wiederum Regine auf.

Unterwegs im Weserbergland

Im Dorf Greene gab es eine Pause – am Unverpackt Laden, der sein Angebot auch auf Tischen vor dem Ladenlokal ausgebreitet hatte. Hier kauften etliche Touries ein, gern Nüsse und Trockenfrüchte oder frisch geerntete Aprikosen, noch lieber das Bio-Eis.
Unser ökologisches Problem mit den viel zu vielen Plastik-Verpackungen ist riesig und belastet nicht nur die Müllentsorgung, deren Mülltrennung (gelber Sack) zu 40 % nicht in das Recycling führt, sondern in die Müllverbrennung und – gern dort genommen – als Brennstoff für die Zementfabrikation. Plastikteilchen gelangen auch in die Weltmeere und verursachen dort eine Verseuchung der Tiere. Das brachte die Tour de Natur 2019 in einem eindrucksvollen Theaterstück den Gästen des Strandbads Warnemünde zur Kenntnis: „Früher war der Fisch in der Verpackung, heute ist die Verpackung im Fisch.“

In Einbeck radelte eine Teilgruppe der Tour durch die Fußgängerzone und verteilte dort ihre Flyer an die Passanten. Auf dem Platz hinter dem Rathaus versammelten sich dann alle Touries. Dort informierte Valentin von der „Verkehrswende Einbeck“ über die Verkehrsplanung der Stadt. Die Stadtverwaltung kann auf das in Auftrag gegebene Nahmobilitätskonzept des Ingenieurbüros Schubert aus Hannover zurückgreifen, das eine Ausweitung der Radverkehrsflächen vorsieht. Allerdings werden darin auch wenig sinnvolle Vorschläge gemacht wie z. B die Umwidmung von Fußverkehrsflächen im Zentrum der Altstadt für Radwege. Eine gewisse Kfz-Lastigkeit des Konzepts sei auch gegeben. Wie auch schon in Hildesheim erfahren, stößt die Umsetzung auf partikularen Widerstand. Zudem sei die ÖPNV-Erschließung des weitläufigen Stadtgebietes eher dürftig.

Die Ilmebahn ist 2018 wieder reaktiviert worden, die Einbeck über Salzderhelden mit Göttingen verbindet. Hier wird einstündiger Takt angeboten.

Eine lange Mittagspause am Waldbadsee in Lauenberg war sehr willkommen, nicht nur wegen der dort von Fläming-Kitchen angebotenen Mahlzeit, sondern auch wegen der bei sommerlicher Hitze möglichen Abkühlung im Naturfreibad.

Hoch mussten die Touries hinauf (ca. 250 Hm), um an das Forsthaus Grimmerfeld im Solling zu gelangen. Dort empfing Förster Peter Martensen die Tour. Der Solling ist ein Gebirgszug, der westlich von Göttingen gelegen ist. Neuhaus ist das 500 m hoch gelegene Zentrum dieses waldreichen Mittelgebirges. Die sog. potenzielle Vegetation (d. h. der letzte Vegetationszustand vor Eingriff größerer menschlicher Nutzung) des Solling wäre ein geschlossener Buchenwald.

Anstieg hinauf zum Forsthaus Grimmerfeld im Solling

Glassande sind im Solling verfügbar, so dass kleine Glashütten und Glasmanufakturen entstanden, deren Holzkohlebedarf immens war. Zudem wurden die Wälder beweidet, was den Aufwuchs von Jungbäumen erheblich reduzierte. Insbesondere Rinder fraßen die jungen Austriebe und reduzierten den Aufwuchs auch und gerade von Buchen.
Aufforstungsprogramme, die nach der Einschränkung bzw. des Verbots von Waldweide einsetzten, brachten schwerpunkthaft schnellwachsende Fichtenbestände. Heute sind 60 % der Fläche mit Eichen (als frühe Aufforstung und heutige Nachforstung) und Buchen bestanden. Ein Großteil davon wird als FFH-Gebiete (Flora-Fauna-Habitat, Naturschutzrichtlinie der EU) ausgewiesen. Zudem sind mehrere Naturschutzgebiete (NSG) eingerichtet worden. Reine Fichtenaufwuchsflächen soll es künftig nicht mehr geben; Mischbestände werden intendiert. Gleichwohl ist schon jetzt, nach den letzten heißen Sommern und geringen Niederschlagsmengen, klar, dass auch die Buchen leiden. Ungefähr 10% der Waldfläche werden unbewirtschaftet gelassen. Hier findet das interessante Experiment statt: Wie regelt sich die „Natur“ selbst, welche Sukzession findet statt?
Im Solling gibt es etliche Hochmoore, die tw. entwässert und auch abgebaut worden sind. Deren CO2-Bilanz ist fatal. Deshalb sind Wiedervernässungsprogramme begonnen worden. Über deren durchaus heikle kurz- und mittelfristig günstigere Bilanz konnte sich die Tour de Natur 2019 in Bad Sülze informieren: Zunächst verfaulen die überwässerten Grünpflanzen und produzieren dabei Methan, das ca. 10x klimaschädlicher ist als CO2, späterhin dominiert die Reduzierung des letzteren.
Eine weitergehende touristische Nutzung des Solling wird intendiert und z. B. in der Region von Neuhaus mit dem zertifizierten Wanderwegeprogramm „Wilde Heimat“ gefördert. Bislang könne man den Solling vielleicht eher als „Geheimtip“ bezeichnen.
Weiter ging es durch den Solling, den waldreichen Tälern folgend bis nach Uslar. In dieser Kleinstadt begrüßte der Bürgermeister Torsten Bauer die Tour de Natur. Er bedankte sich für den Besuch der Tour in seiner Stadt und lobte deren Einsatz für Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung.

Anschließend erläuterte Jörg Grabowsky von den Ortsräten Schoningen, Ahlbershausen und Verliehausen, dass die Verknüpfung der Radwegsverbindung von Göttingen quer durch den Solling über Uslar zur Weser, die schon seit zwanzig Jahren geplant werde, nun endlich in die Realisierungsphase übergehe.
Timmi fragte kritisch an, warum vor Uslar eine aufwändige Verbreiterung der B241 durchgeführt werde, wohingegen z. B. die Uslar mit Northeim und Altenbeken verbindende Bahntrasse nur eingleisig sei.

Noch immer ohne den angekündigten Regen, allenfalls von ein paar Tropfen berührt, radelte die Tour zum Nachtquartier. Eine freundliche Mitarbeiterin des Bürgermeisters hat die Tour de Natur in der Turnhalle der Grundschule einquartiert, die – so die nachfolgende Inansichtnahme der Touries – ein prima, weil großes und im Vergleich zu Heckenbeck reichlich mit Duschen und Toiletten ausgestattetes Quartier bietet. Anders formuliert: eine intermittierende Reduzierung der Körperpflege auf das unbedingt Notwendige lässt sich so leichter in die Biographie einfügen. Und als weiteres Highlight: Viele Sitzbänke mit Tischen auf dem Schulhof sorgten für bequem einzunehmende Mahlzeiten.

Nach dem wieder leckeren Abendessen aus Wam’s Küche fand dann der Offene Abend statt. Auch in diesem Jahr gab es wieder eine bunte Mischung von Akrobatik, musikalischen Darbietungen, einer kuriosen Neubearbeitung des Grimm’schen Aschenputtel-Märchens, humorvollen und ernsten Texten und sogar einen bewegungskünstlerischen Beitrag eines vierbeinigen Tourmitglieds. Jakob und OIiver führten durch das Programm, das viel Beifall fand.

Zum Abschluss gab es Musik zum Gruppentanz, in Fortsetzung des Abends im Trillkegut Hildesheim. So klang ein schöner Sommerabend aus.

Donnerstag, 01.08.2024, 13. Tag der Tour de Natur: von Uslar nach Hann. Münden (43 km)

Noch ein herrlicher Sommermorgen mit gutem Frühstück auf dem leider voll versiegelten (=geteerten) Schulhof, aber eben reichlich bestückt mit Sitzbänken an Tischen. So konnte gut gelaunt gestartet werden.

Frühstück ist angerichtet

Die Route führte in Längsrichtung durch den Solling, über Landstraßen mit Blick auf die Hänge, die überwiegend als – nach den Regenwochen grüne – Wiesen daliegen, auf den Höhen die Waldungen des Solling, meist Laubbäume.

Hinunter führte die Route dann in das Tal der Weser und dort in den kleinen Ort Lippoldsberg.

Über den ökologischen Zustand der Weser informierte Dr. Jürgen Bäthe vom Fachbüro EcoRing beim Info-Stopp an der Gierseilfähre. Der Salzgehalt des Flusses sei erheblich in den letzten Jahrzehnten gesenkt worden, was durch die Analyseergebnisse seines Instituts kontinuierlich als Auftragsforschung gezeigt wird. Massive „Verschmutzung“ der Weser ist durch die im oberen Verlauf bzw. am Zufluss Werra gelegene Kali fördernde Industrie (Firma K+S) eingetreten, denn deren reduzierte Einleitung von kali- und phosphorhaltigen Abwässern in die Oberweser vergiftete die Fische und produziert (Präsens, denn hier müssten die angrenzenden Bundesländer strengere Vorgaben für die Landwirtschaft durchsetzen) ein extremes Algenwachstum, für das eben auch die Nitrat- und Phospateinträge durch den Düngereinsatz der Agrarwirtschaft ursächlich sind.

Die Fauna der Weser sei beeindruckend. Die Einwanderung von salzliebenden Krebsarten ist rückläufig (warum: s.o.), das Aufwachsen von anderen Arten, deren Fressfeinde somit ausbleiben, findet wieder statt. So sind nun auch wieder viele Fischarten in der Weser angesiedelt. Die geringe Sauerstoffversorgung des Flusses wird insbesondere während der warmen Jahreszeit zu einem erheblichen Problem, da aufgrund der großen „Nährstoffeinleitung“ zu großes Algenwachstum stattfindet, was erhöhten Sauerstoffverbrauch mit sich bringt, der der Wasserfauna dann fehlt.

Jürgen Bäthe zeigt einen Süßwasserschwamm, der sich unter einem Gewässerrandstein angesiedelt hat.

Ein Naturgesetz gibt zu denken: Salz lässt sich aus fließendem Wasser nicht durch Filter oder chemische Reaktionen entfernen, sondern nur durch „Verdünnung“ – oder durch energieaufwändige Siedeprozesse. Somit tragen nicht nur die Kaliindustrie zur schädlichen Salzeinleitung ein, sondern z. B. auch alle Spülmaschinennutzer, deren „Reinigungsmittel“ zu ca. 80% aus Salz bestehen, das in den Kläranlagen nicht (s.o.) entfernt werden kann. Auch unsere wassersparenden Spülmaschinen tragen somit nicht unerheblich zur Versalzung der Flüsse bei.

Die Schiffbarkeit der Weser ist ähnlich gering wie jene der von der Tour anfangs besuchten Elbe. Als Bundeswasserstraße findet Ausbaggern, Buhnenbau und Uferabmauerung statt, was die Ökologie nachteilig verändert. Ein erheblicher Mengenzufluss der Weser stammt aus der Edertalsperre, die im Sauerland mit dem einzigen Zweck erbaut worden ist, als Wasserreservoir für den Mittellandkanal zu dienen: Über die Eder wird – meist für die Flussfauna zu kühles Tiefenwasser – als Nachfüllmenge in die Fulda und von dieser in die Weser geleitet, um in Minden in den Kanal hochgepumpt zu werden.

Eine grundlegende Problemlösung illustriert das Beispiel der Lahn, die aus dem Bundesbesitz herausgekauft worden ist und nun nicht mehr als Schifffahrtstraße zugerichtet, sondern als Fluss vom Land und den anliegenden Kommunen gepflegt wird.

Zum Abschluss zeigte Jürgen Bäthe am Ufer der Weser einige Kleinlebewesen, insbesondere Süßwasserkrebse und -schwämme; letztere erbringen erstaunliche Filtrationsleistungen.

Dann hieß es, auf die Räder – und bei hochsommerlicher Hitze radelten die Touries weiter über schöne Radwege und über Nebenstraßen entlang der Weser zum Mittagshalt am Kloster Bursfelde. Hier gab es genug Schattenplätze, Salat und schmackhafte, etwas der indischen Küche zuneigende Linsensuppe und Brot mit veganen Aufstrichen.

Die Weiterfahrt ging das Wesertal hinauf, fast immer in Sichtweite des Weserradwegs, der mittlerweile der beliebteste Radfernweg Deutschlands ist. Bei schwülem Wetter, ein Gewitter oder Regenguss war angekündigt und traf zum Glück erst abends ein, radelten die Touries in die Altstadt von Hann. Münden und stellten direkt an der Werra ihre Räder ab. Im Innenhof des Packhauses fand dann eine Informations- und Diskussionsveranstaltung statt.

Zunächst erinnerte Kai daran, dass im Jahr 2018 hier in dieser Stadt das erste Freie Lastenrad des Landkreises Göttingen im Beisein von Jürgen Trittin, dem Bundestagsabgeordneten der Grünen/Bündnis 90, an die Arbeitsgruppe „Leila“ des ADFC Göttingen übergeben worden ist – während des damaligen Besuchs der Tour de Natur. Auf dem Tacho dieses Rades, das Kai auf die diesjährige Tour mitgenommen und mit Carla-Cargo zu noch mehr Transportkapazität erweitert hat,  stehen heute mehrere Zehntausend Kilometer. Es funktioniert immer noch prima und leistet seine Dienste im Landkreis Göttingen.

Herr Tobias Dannenberg, der Bürgermeister von Hann. Münden, begrüßte im Innenhof des Packhofs die Tour de Natur. Nachfolgend konnten die Touries Fragen an die hier anwesenden Fachpersonen richten.

Nicole Prediger, Leiterin des Bereichs Stadtentwicklung, erläuterte das Konzept der „Schwammstadt“, von dem die Tour de Natur bereits in Hannover einiges erfahren hatte. Die Stadt Hann. Münden bietet z. B. Beratungsangebote für Personen, die Privatgärten klimafreundlich gestalten möchten. Noch wird nicht auf die Besitzer jener Gärten mit Sanktionen eingewirkt, die z. B. größere Steinflächen statt Beetflächen vorhalten (sog. Schottergärten).

Nicole Prediger, Leiterin des Bereichs Stadtentwicklung von Hann. Münden, erläutert das Konzept der Schwammstadt (rechts von ihr: Bürgermeister Tobias Dannenberg)

Vor ca. fünf Jahren ist eine Klimafolgenanalyse für die Stadt vorgenommen worden. Bezogen auf diesen Rahmen hat fortan jedes Bauvorhaben nachzuweisen, dass die darin aufgelisteten Anforderungen erfüllt werden. So muss z. B. das Ausmaß der Versiegelung bei Neu- bzw. der Entsiegelung bei Umbau von Altsubstanz ausgewiesen werden. Es gibt ein Projekt zur Wasserversickerung an den Hangflächen oberhalb der Stadt, um insbesondere bei Starkregen den raschen Wassereintrag in Werra und Fulda zu verhindern. Die Hochwassergefährdung der Stadt ist augenfällig: Hier treffen Fulda und Werra zusammen, die die Altstadt umfließen. Hochwasserstandsmarken am Packhaus, das direkt an die Werra angrenzt, wirken beunruhigend.

Adalbert Leuner blickte kritisch auf die tradierte Radverkehrssituation der Stadt. In den kommenden Jahren soll dieser Verkehrsbereich deutlich aufgewertet und ausgebaut werden. Immerhin ist die Stelle des Radverkehrsbeauftragten der Stadt geschaffen worden, die er mit großem Engagement übernommen hat.

Interessant ist das Projekt Fachwerk5Eck, das von fünf Städten (Hann. Münden, Einbeck, Duderstadt, Einbeck, Osterode) zur Rettung von Fachwerkgebäuden gegründet worden ist. Immerhin ist die Sanierung dieser Bausubstanz wesentlich umweltfreundlicher als der Abriss und Neubau. Zudem wird das Bild einer historischen Innenstadt damit erhalten und unschöne Eindrücke verfallender Bauobjekte werden vermieden.

Frau Sabine Momm ist Mitglied der „Bürgergenossenschaft Mündener Altstadt e.V.“, die seit elf Jahren besteht. Sabine Momm führte die Touries zu dem nahegelegenen ersten Sanierungsprojekt, das heute als historisch angemessen restauriertes und zugleich modernes Veranstaltungs- und Wohnhaus genutzt wird. Mittlerweile hat die Genossenschaft vier weitere Häuser bzw. Hausruinen gekauft und deren Sanierung begonnen und teilweise schon fertiggestellt. Übrigens: Für die Grundsanierung des ersten Gebäudes hatten sich damals 190 engagierte Menschen mit mehr oder minder großen handwerklichen Fähigkeiten zusammen gefunden und das Objekt in nur neun Tagen grundsaniert (nach neun Monaten wurde „alles“ fertig). Diese Menschen waren eingebunden in einen grandiosen Arbeitsplan eines hier sich einbringenden Architekten, der alle Gewerke und die Aktivisten so einband, dass sie sich dabei nicht „auf die Füße traten“, und das in einem engen, 3-geschossigen Fachwerkgebäude!

Zum Abend hin radelte die Tour zum Quartier, dem Grotefend Gymnasium, wo sie sich auf dem Außengelände mit Zelten und in der riesigen Turnhalle mit Liegematten ausbreiten konnte.

Um 20 Uhr begann eine sehr interessante Abendveranstaltung, der Vortrag von Dr. Jochen Eckart (Professor für Verkehrsökologie an der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft) zum Thema „Sicherer Radverkehr“. Die vorgestellten empirischen Ergebnisse der Radverkehrsforschung waren zum Teil verblüffend. So sind die Unfallszahlen zwischen den verschiedenen Führungsformen des Radverkehrs (insbesondere Radweg, Schutzstreifen, Mischverkehr) fast gleich, obgleich hier die subjektive Sicherheitsempfindung erhebliche Unterschiede macht. Und obendrein: An Knotenpunkten sind fahrbahngeführte Radwege deutlich sicherer als die Alternativen.

Jochen Eckart hob hervor, dass es ein („das“) Regelwerk für die Gestaltung der Radinfrastruktur gibt, die ERA („Empfehlungen für Radverkehrsanlagen“, herausgegeben von der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen in Köln, kostenpflichtig). Die ERA gilt für die Radverkehrsplanung und – so die Einschätzung des Referenten – ist durchaus hilfreich. Die Straßenverkehrsbehörde hingegen arbeitet auf der Grundlage der StVO (Straßenverkehrsordnung), die von den meisten Fachpersonen als nicht mehr zeitgemäß und eher radverkehrsungünstig eingeschätzt werde.

Es gab zahlreiche, mehr oder minder auf die Vortragsthematik bezogene Fragen aus dem großen Kreis zu Zuhörer, was auch zeigt, dass die Touries mit der Thematik viele persönliche Erfahrungen verbinden. Jochen Eckart gelang es immer wieder, den schwierigen Balanceakt zu vollführen: alle Frager zu Wort kommen zu lassen und auf deren Anliegen zu reagieren und dennoch den Fachvortrag fortzusetzen.

Als Empfehlung wies er auf das Projekt Unfallatlas hin, das interessante empirische Daten der statistischen Landesämter und des statistischen Bundesamtes gut aufbereitet liefert.

Ein heikles Thema ist die zunehmende Nutzung von Pedelecs; diese Nutzergruppe ist mit steigender Frequenz an tödlichen Verkehrsunfällen beteiligt. Was kaum bekannt ist: Wählt man die Anzahl der Verkehrstoten bezogen auf die Kilometerleistung als Variable, so ist das Radfahren ungefähr so sicher wie PKW-Fahren oder Zufußgehen. Extrem unsicher ist hingegen das Motorradfahren und extrem sicher ist der ÖPNV.

Freitag, 02.08.2024, 14. Tag der Tour de Natur: von Hann. Münden nach Kassel

Schon die Nacht und leider auch der Morgen brachte Regen, für die Zeltübernachtenden etwas ärgerlich, weil das nasse Equipment eingepackt werden musste. Für die Hallenschläfer:innen kein Problem: die riesige Halle hielt dicht. Für alle: das Frühstücken begann in Regenbekleidung. Aber diese Lage dauerte nicht lange an, der Regen hörte auf, die Tour hinterließ eine geräumte Halle und schaffte es an diesem Morgen pünktlich, d. h. um 9:40 Uhr abzufahren. Den Tageshut, schon am gestrigen Mittag von Regine übernommen, hatte Tabea auf.

Fast nie sind es die Eltern mit kleinen Kindern, die um 9:30 Uhr noch nicht all ihre Sachen gepackt und auf die Räder geladen sowie das Frühstück eingenommen haben. Ähnlich verhält es sich bei den Helfern, die die Lastenräder bestücken z. B. mit der Lautsprecher-Ausrüstung, deren Akkus über Nacht nachgeladen werden müssen – oder den Lastenanhänger mit den Musikinstrumenten oder jenen mit den Getränkekisten, aus denen am Vorabend gern ein Bier gegen Beschaffungskosten entnommen wurde.

Aber es gibt immer wieder einzelne Touries, für die der Abfahrtszeitpunkt doch überraschend zu kommen scheint und/oder die noch nicht ganz verstanden haben, dass die Turnhalle schon deutlich vor diesem Zeitpunkt geräumt sein muss, weil noch das Ausfegen von der Tour zu erledigen ist. Zu einer höchstpersönlichen Erklärung dieser Sonderheit konnte am Offenen Abend ein gewisser Kettenblatt zu Wort gebracht werden.

Da mittlerweile einige Touries auf Pedelecs radeln, fast alle Smartphones bei sich führen, einige mit Hörgeräten durch den Tag hören, sorgt die Tourorganisation auch für eine hinreichende Nachladeinfrastruktur (Steckerleisten) an den meist nur spärlich vorhandenen Steckdosen. Ein gewisses Problem lassen bemerkenswert ähnliche Kaufentscheidungen der Touries aufkommen. So ein Ei-Samsung-Google-etc.-Phone ist meist x-fach an den Verteilerleisten eingesteckt und bedarf verwechselungsfreier Identifikation. Ähnliches gilt für Akkus eines württembergischen Herstellers und für Sandalen mit gelber Herstelleraufschrift sowie für Packtaschen aus dem Hause Umtrieb.

Die Tour radelte das Flusstal der Fulda hinauf, auf der flussbegleitenden Landstraße, die meist von Linden bestanden ist. Um den Autoverkehr, der die auch heute wieder mehr als hundert Radler:innen nicht überholen durfte, dann endlich doch mal wieder „frei“ fahren zu lassen, werden regelmäßig kleine Stopps eingelegt, also die Fahrbahn geräumt und alle Touries müssen sich dann auf einem Parkplatz oder auf abzweigenden Wirtschaftswegen einen Stellplatz suchen und zwar so, dass sie ihr Rad nicht gleich an deren Eingang abstellen und damit den Nachkommenden den Zugang versperren. Das klappte jetzt, am letzten Radltag der diesjährigen Tour de Natur, schon fast problemlos. Wie nennt sich so etwas: Gewohnheitsbildung, Lernen in Gruppen, Achtsamkeit, Selbstverständlichkeit?

Nach knapp 40 km fuhr die Tour in die Großstadt Kassel ein und folgte den Straßenbahnschienen bis in die Innenstadt. Vor dem Staatstheater fand die Mittagspause statt, wieder gut versorgt von Fläming Kitchen – unter blauem Himmel und bei wieder fast sommerheiß scheinender Sonne.

Tabea konnte für 30 Touries eine kostenlose Führung durch das nebendran gelegene naturkundliche Museum Ottoneum arrangieren. Und: auch dessen Toiletten durften von allen Tourteilnehmern genutzt werden.

Der Oberbürgermeister von Kassel, Sven Schöller (Partei: Grüne), begrüßte die Tourteilnehmer:innen und freute sich, dass das Anliegen der Tour auch nach Kassel transportiert werde. Das seit 2015 bestehende Radverkehrskonzept Kassels wurde von Tabea angesprochen. Wo steht Kassel jetzt, fast ein Jahrzehnt später?

Begrüßung der TdN durch den Kasseler OB Sven Schöller

„Wir sind noch nicht da, wo wir sein wollten“, so die Antwort von Sven Schöller. Aber es sei einiges schon geschaffen worden, so insbesondere die Fahrradstraße im Westen von Kassel, das sog. Königstor. Hier ist etwas Heikles mit einjähriger Testphase installiert worden: eine Sperre (Poller als „Modalfilter“) leitet den KfZ-Durchgangsverkehr um, während der Radverkehr auf bequemer und schneller Route fließen kann und den Campus der Universität mit der Innenstadt und dem Stadtteil Wilhelmshöhe (ICE-Bahnhof) verbindet.

Vorzeigen kann die Stadt Kassel auch das Fahrradparkhaus am Rathaus, das aber noch unterfrequentiert sei. Als ersten Schritt favorisiere er als Bürgermeister Maßnahmen, die wenig umstritten sind wie z. B. die Ertüchtigung der schon vorhandenen Fahrradrouten und erst danach sollen grundlegende Umrüstungen der Verkehrsstraßen in Angriff genommen zu werden. Damit werde der latent vorhandene Widerstand bestimmter Bevölkerungsgruppen reduziert. Immerhin: Das Wissen über die extreme direkte und indirekte öffentliche Finanzierung des motorisierten Individualverkehrs (MIV) und über dessen vielfäch schädliche Wirkungen sei schon seit Jahrzehnten vorhanden, aber Tatsache sei auch, dass dieses Wissen in großen Bevölkerungsgruppen noch nicht angekommen sei bzw. von diesen ignoriert werde.

Im Hintergrund standen auch die Plakate der Initiative „Neue Herkulesbahn“. Sven Schöller wies darauf hin, dass dieses Projekt sicherlich besondere lokale Wertschätzung findet, auch die seine, aber die überregionalen Förderungsmöglichkeiten für diese eher unter touristischen Gesichtspunkten attraktive Bahnstrecke seien kaum vorhanden. Reiner Borchert vom Förderverein Neue Herkulesbahn wies darauf hin, dass Kassel wegen des Landschaftsparks am Herkulesdenkmal zu einer Weltkulturerbestadt geworden ist. Die Verlängerung der Tramstrecke bis hinauf zum Denkmal sei dringend nötig, denn der bestehende Busverkehr sei unzureichend, um diese Kulturdenkmal zu erreichen.

Dann führte die Theater- und Artistikgruppe der Tour de Natur das Stück „Wir bringen den Stein ins Rollen“ auf, das mit einer Gesangspromenade ausklang und an die „Schwäb‘sche Eisenbahne“ erinnerte.

Durch die Innenstadt radelte die Tour weiter zum alten, dem Hauptbahnhof Kassel, schob ihre Fahrräder durch das Bahnhofsgebäude auf Gleis 1 und begab sich dann in das angrenzende Gebäude. Dort begrüßte Dr. Stefan Klein, Leiter des Verkehrsangebots des NVV, die Tour de Natur im angenehm kühlen Vortragsraum. Zuvor konnten sich die Touries mit Kalt- und Warmgetränken versorgen.

Das RegioTram-System ist seit 2007 in Funktion, seit 2013 im Gesamtnetz. Grundidee ist, das Eisenbahn- mit dem Straßenbahnsystem zu verknüpfen, um insbesondere umstiegsfrei vom Umland in die Innenstadt von Kassel zu gelangen (und umgekehrt). Zudem soll der (neue) Fernverkehrsbahnhof Kassel-Wilhelmshöhe mit dem (alten) Nahverkehrsbahnhof Kassel Hauptbahnhof verknüpft werden.

Mehrere technische Voraussetzungen müssen erfüllt sein: (a) gleiche Spurweite; (b) ähnliche Bahnsteighöhen (d. h. nicht zu hohe Bahnhofsbahnsteige, da Niederflurstraßenbahnen präferiert werden); (c) mehrere Antriebsarten (elektrisch mit Mehrsystemmotoren (Systemwechselstelle) und für die nicht elektrifizierte Bahnstrecke: dieselelektrischer und straßenbahnelektrischer Antrieb); (d) doppelte Sicherungssysteme (inbes. Fahren auf Sicht vs. Signalsteuerung); (e) Adaptation der Bahnsteigsbreite (schmalere Straßenbahnfahrzeuge).

Die Umlandserschließung erfolgt über das Bahnnetz und bedient damit nicht die gesamte Fläche. Im 30-min-Takt wird werktags gefahren, im innerstädtischen Bereich kann durch Überlagerung der Linien ein erheblich dichterer Takt angeboten werden. An Wochenenden gibt es einen 60-min-Takt.

Eine Führung von Thomas Wolf über die RegioTram-Bahnsteige schloss sich an, zu der auch eine Besichtigung eines Tramfahrzeugs gehörte. Etwas enttäuschend: nur 2 x 3 Fahrradstellplätze pro Fahrzeug. Allerdings bieten die Regionalexpresse und -bahnen, die außerhalb der Stadt auf den Strecken verkehren, erheblich mehr Stellplätze. Ob es viel Sinn macht, innerhalb von Kassels Innenstadt – weiter fährt die RegioTram nicht im Stadtgebiet – für mehr Fahrradtransport in der RegioTram zu sorgen, diese Frage ist vielleicht schon beantwortet.

Am späten Nachmittag machte sich die Tour auf den Weg hinauf zur Wilhelmshöhe. Unabweislich dabei die Feststellung: Kassel ist eine Stadt mit erheblichen Steigungen (und Abfahrten). Das Nachtquartier, die Kasseler Waldschule, liegt hoch oben über der Stadt, im fast parkhaften Gelände neben dem Bergpark, in idyllischer Ruhe, allerdings mit gelegentlicher Wortmeldung einer kleinen Schafsherde.

Hier konnten sich die Touries in den Klassenräumen und auf dem weitläufigen Areal ihre Schlafplätze suchen. Und einige fanden dabei ganz besondere Gelegenheiten (s. Foto). Am Morgen wurde allerdings berichtet, dass zahlreiche Schnecken dieses Spezialquartier für ihre Nacht gleichfalls nutzen und sich Zutritt zum Schlafsack verschaffen wollten.

Am Abend fand unter der großen Linde das Abschlussplenum statt. Hier wurde wurde viel gelobt, viel geschmunzelt und viel versprochen: Es geht weiter mit der Tour de Natur, auch im nächsten Jahr!

Astrid, auch auf dieser Tour wieder gut gelaunt den abendlichen Eincheck für Neuhinzukommende machend, berichtete, dass insgesamt 200 Menschen an der diesjährigen Tour teilnahmen und durchschnittlich 120 Radler:innen pro Tag dabei waren.